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E1: 19-21-D-Emmerweg

Viel Muße auf dem Weg zur Quelle

Wieder macht der E1 einen weiten Schlenker, der nach Detmold und dem Hermannsdenkmal führt. Ich kenne es schon von früher und entscheide mich deshalb, die Route zu verkürzen. Statt auf dem E1 geht es den Emmerweg entlang. So komme ich auch meinem Ziel schneller näher.

Es geht von Hameln an der Weser entlang bis nach Emmerthal. Dort beginnt der eigentliche Emmerweg, der den Emmer bis zur Quelle begleitet. Von dort bis nach Altenbeken ist es nur noch ein kurzes Stück. Der Weg geht kontinuierlich bis auf 350m ü.N.N hinauf, ist landschaftlich reizvoll und bietet interessante Weitblicke.  

auf dem Emmerweg (6-9.6.15)

Die Highlights der Wanderungen sind:

  • die Städte Hameln und Bad Pyrmont für den touristischen Teil 
  • zwei katholische Kirchen für die Muße und das völlige Versinken in hölzerne Statuen
  • drei technische Leckerbissen (eine optische Telegrafenstation, das Röhren von Rennmotoren und als besondere Überraschung ein Motorenmuseum mit einer Sammlung alter Motoren und einem netten Gespräch mit Herrn Pott).

Hinfahrt: So, 7.06.15: Hamburg Hbf ab 7:23,  ICE, Hannover Hbf ab 8:55, S5 an Hameln 9:40

Rückfahrt: Die. 9.6.15: Altenbeken ab 18:27, S5, Hannover Hbf, ab 20:20 an HH 21:38

1. Tourtag (7.6.15)

Früh sitze ich im Zug nach Hameln. Nun muss es schon der ICE nach Hannover sein, von dort geht es mit der S-Bahn weiter nach Hameln. Insgesamt dauert die Anfahrt bereits mehr als zwei Stunden. Als ich in Hameln aus dem Zug steige, ist der Himmel blau und klar, keine Wolke ist zu sehen.

Wenn man nach Hameln reist, sollte man sich für die historische Altstadt etwas Zeit nehmen. Es ist die Stadt der Rattenfänger, die Sage ist laut Wikipedia mehr als einer Milliarde Menschen bekannt:
Es war einmal ein Mann, der hatte eine wundersame Pfeife, mit der er erst die Ratten und später die kleinen Kinder aus der Stadt lockte. Keines von ihnen sah man je wieder...

Also bin auch ich erst einmal touristisch unterwegs, flaniere durch den historischen Stadtkern, die Touristen sind derweil wohl noch beim Frühstück. Einige Einheimische beten bereits in der Nikolai Kirche, den Gottesdienst will ich nicht stören, ein Foto durch die Glastür ins Kircheninnere muss genügen.
Dann ein Blick auf den Pferdemarkt. Dort steht das verspielte Hochzeitshaus, das im 17. Jahrhundert als letztes Steinhaus im Renaissance-Stil erbaut wurde. Siebenunddreißig Glocken hängen am Giebel nebeneinander aufgereiht und warten auf ihren Einsatz. Sollten sie ertönen, würde sich gleichzeitig eine Bronzetür öffnen, die Figur des Rattenfängers heraustreten und im Kreis laufen, verfolgt von einer Schar Ratten. Aber das findet zu einer anderen Zeit statt. Ich bekomme es nicht zu sehen. Weiter geht meine Entdeckungstour durch die Bäckerstraße, ich schaue nach links und nach rechts, sehe altehrwürdige, sehr sehenswerte Häuser und verlasse schließlich die sagenumwobene Stadt über den Europaplatz in Richtung Süden.

Es geht die Weser entlang, die ich mir breiter vorgestellt habe. Im Hafen liegt ein alter Mienensucher fest vertäut am Pier, die graue Tarnfarbe des ehemaligen Militärbootes blättert ab, die Scheuerleisten sind halb vermodert. An Deck schwanken Veteranen und halten sich an ihrem Bier fest.
Der Hafen endet in einem Seitenarm der Weser, verrottete Güterwaggons warten auf ihre Verschrottung. Sie sind keine Augenweide für einen vorbeiziehenden Wanderer. Weiter geht es über eine Brücke zum Hauptfluss und nun begleite ich die Weser auf einem Uferweg, der, von knorrigen, alten Weiden gesäumt, mich bis ins Emmerthal führen wird. Er wird überwiegend von Radfahrern genutzt, die geschwind an mir vorbei radeln. Manche klingeln, andere zischen so knapp an mir vorbei, als gelte es, mich vom Weg zu verscheuchen.
Die Tündernsche Warte - ein Gasthaus im bayrischen Flair - lockt mit Kaffeeduft, doch ich gehe vorbei, schließlich bin ich erst zwei Kilometer unterwegs. Kurz darauf ziehe ich an der schneeweißen Tündernschen Mühle vorbei, sie sieht aus wie ein knuffiges Bauwerk aus der Welt der blauen Schlümpfe.
Immer mehr Radfahrer überholen mich, nur wenige kommen mir entgegen. Jeder Dritte von ihnen lässt sich elektrisch unterstützen, leise surren die E-Bikes. Unter dem Namen Pedelecs kennt man diese Gefährte auch, sie haben einen bis zu 250 Watt starken Elektromotor, der die Fahrt mehrere Stunden lang bis zu 25km/h elektrisch unterstützt. Eine feine Sache.
Eine Familie kommt mir auf Fahrrädern entgegen, zwei Kinder fahren vorneweg, die Eltern hinterher. Die Kinder halten sich ordentlich rechts und lassen mir ausreichend Platz. Trotzdem ermahnt die Mutter:

„Thimo, Nele, fahrt brav hinter Klaus her.“

Warum macht sie das? Die Kinder haben alles richtig gemacht.
„Ist die Frau unentspannt,“, höre ich einen Mann hinter mir sagen. Auch er sitzt auf dem Fahrrad, radelt just an mir vorbei. Ich muss laut lachen, denn ich weiß um die Bedeutung seiner Worte und er schaut mich zuerst erstaunt an, dann lacht auch er. Wir wissen beide, warum und sind für einen Moment in diesem Wissen vereint.
Noch mehr Radfahrer schnurren vorbei, ich fühle mich allmählich wie auf einer Fahrradautobahn. Ein Schild weist darauf hin, dass hier der Weser-Radweg verläuft, folgt der Weser von der Quelle bis zur Mündung in der Nordsee. Radfahrer werde ich noch bis Emmerthal ertragen müssen, erst dort werde ich Wanderwegen folgen können, die Radfahrer vermutlich nicht nutzen.
Komoot möchte, dass ich die Weser überquere. Eine alte Eisenbahnbrücke ist auch da, ein Weg neben den Gleisen, die über die Stahlbrücke führen, ist ebenfalls vorhanden. Nur das große Schild „Durchgang verboten – Bahnanlage“ kennt Komoot offenbar nicht. Ich ärgere mich, ob über Komoot oder das Verbotsschild, kann ich gar nicht genau sagen. Schnell entscheide ich, dem Verbot zu folgen, strebe der nächsten Brücke zu. Sie ist nicht weit entfernt, die Aufregung also unbegründet und den kleinen Umweg kann ich in Kauf nehmen. Außerdem hilft in solchen Momenten immer die Frage an sich selbst: „was ist das Gute daran?“ Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten, denn in Emmerthal ist ein Stadtfest in vollem Gange. Ohne Umweg hätte ich keine Bratwurst bekommen, die ich nun auf dem Rasen liegend vor der Petrikirche genüsslich verspeise, während ich dem munteren Treiben zuschaue. Wieder wurde mir ein mußevoller Augenblick geschenkt. 

Gestärkt und gut erholt lasse ich Fest und Ort hinter mir, wende mich vom Tourismus ab, der mich seit Hameln begleitet hat. Unter einer Brücke am Ortsausgang strömt gemächlich der Emmer, den ich hier das erste Mal zu sehen bekomme. Seinetwegen bin ich ja gekommen, gehe ich doch den Emmerweg. Unweit von hier verbindet der Emmer sich mit der Weser. Ich werde dem Emmer nun sechzig Kilometer bis zur Quelle folgen.

Hinter der Brücke geht es steil bergauf, die ersten Höhenmeter dieser Tour sind zu erklimmen. Schnell bin ich oben angekommen. Ein Blick zurück präsentiert das weite Emmerthal, das von bewaldeten Höhen in weiter Ferne begrenzt wird. Und endlich umgibt mich, was ich beim Wandern am Meisten genieße: Ruhe und das Alleine-Sein. Vogelgezwitscher überall, manchmal auch der Ruf eines Kuckucks, die Felder duften nach Heu und am Wegesrand blühen bunte Blumen. Der Flieder ist reif und schickt aus weißen Blüten betörenden Duft zu mir herüber. Das haben auch die Bienen gerochen, ihr Summen ist aus manchem Busch schon von Weitem zu hören. Herrliches Wandern! Mein Alleine-Sein wird unterbrochen, als ein Greis mir, gestützt durch seine Wanderstöcke, entgegen humpelt. Als wir uns begegnen, fragt er: „Haben Sie das hässliche AKW geknipst? Das haben sie uns hier mitten ins Emmerthal gebaut. Richtig verschandelt haben sie alles damit!“.
Wut schwingt in seiner Stimme mit. Er meint wohl das Kernkraftwerk Grohde, das hier seit vierzig Jahren seinen Dienst tut. Aus zwei Kühltürmen entweicht weißer Wasserdampf, der hoch steigt und sich zu den weißen Wolken gesellt, die am Himmel stehen. Es steht klotzig mitten im Emmerthal und es lässt sich kaum vermeiden, dass die große runde Kuppel und die Kühltürme mit auf das Foto geraten sind, das ich eben mit dem Smartphone geschossen habe.
„Ja, es sieht hässlich aus", entgegne ich, "und es passt so gar nicht in diese schöne Gegend. Aber ich habe es gar nicht fotografiert, sondern den Weg, den ich herauf gekommen bin“. Ich zeige Richtung Norden. Er folgt meinem Finger, deutet ihn aber falsch. „Ja, da hinten auf dem Schecken, da haben sie Hitler immer den roten Teppich ausgelegt, wenn er hier in der Gegend Gelder eingesammelt hat.“
„Haben Sie das miterlebt?“, frage ich.

Vielleicht hat er eine interessante Geschichte zu erzählen, schließlich könnte er einiges aus dieser Zeit als Augenzeuge miterlebt haben.
„Nein, ich komme aus Böhmen, bin erst nach dem Krieg hierher gekommen. Da habe ich dann auch mein Haus gebaut, in dem wohne ich noch heute, aber jetzt geht die Heizung nicht mehr richtig…“. Er redet sich warm, vielleicht froh, jemanden gefunden zu haben, der sich sein rückwärts gerichtetes Denken anhört. Doch ich möchte Wandern und Neues erleben. Mit den Worten: „Toll, dass Sie noch so gut zu Fuß sind“ wende ich mich ab zum Gehen. 

Wenn es Zeit wird für eine Pause und der Wanderer keinen Gasthof ansteuern möchte, dann sucht er sich gerne eine geeignete Bank für seine Rast. Geeignet bedeutet dabei: sie soll ruhig liegen, einen schönen Ausblick bieten, im Schatten liegen, sofern die Sonne scheint, sauber und heil sein. Selten findet der Wanderer, wonach er sucht. Heute aber treffe ich auf die perfekte Bank für meine Rast. Sie ist ganz neu, blitzeblank, wohlgeformt und lang genug, um die Beine auszustrecken. Gekennzeichnet ist sie mit den Buchstaben XW, das Zeichen des WeserWanderweges. Vermutlich wurde die Bank vom Weserbergland Tourismus e.V. aufgestellt, dem ich an dieser Stelle ganz herzlich danken möchte. Und das Highlight ist: die eine Seite der Bank liegt in der Sonne, die andere im Schatten. So verschlummere ich auf ihr eine entspannte, sonnige Stunde. Mein Kopf liegt im kühlen Schatten und der Körper wird von der Sonne gewärmt. Aber auch die schönste Pause muss irgendwann zu Ende gehen, schließlich will ich heute noch bis Bad Pyrmont kommen. Nur noch ein kurzes Stück durch den Wald, dann stoße ich auf eine Nebenstraße, die nach Hämelschenburg führt. Es ist aber keine Burg, sondern ein im 15. Jahrhundert gebautes Schloss. Karpfen ziehen Kreise in einem Teich direkt an der Straße. Sie schwimmen knapp unterhalb der Wasseroberfläche, heben ihre Köpfe aus dem Wasser, die Mäuler weit geöffnet. Schnappen die Fische nach Luft oder wollen sie Enten gleich gefüttert zu werden? Ich finde es nicht heraus, denn ich habe kein Brot in der Tasche und bin auch schon vorbei. Ein paar Schritte weiter liegt die Ostseite des Schlosses. Dort gibt es fünf riesige Wasserspeier zu bestaunen, die, langen Speeren gleich, weit über das Dach des Schlosses hinaus ragen. Bei Regen fließt das Regenwasser vom Dach über die Speier aus der Höhe des dritten Stockwerks direkt in den Schlossgraben. Das Plätschern wird den Schlossbewohnern wohl manch schlaflose Nacht beschert haben. Heute aber scheint die Sonne und Regen ist fern. Was die Schlossanlage zu bieten hat - ob Kunstsammlung, Gartenanlagen, Wassermühle, Wirtschaftsgebäude oder Kirche - ich muss es links liegen lassen. Denn ich will weiter. Der Eindruck des Schlosses verfliegt rasch. Erst meine nachträgliche Recherche ergibt, dass ich hier an einem Hauptwerk der Weserrenaissance mit seiner langen und bewegten Geschichte eilig vorbei geschritten bin. Wären die Tagesdistanzen kürzer als ich sie plante, hätte ich länger verweilen können. 

Der Weg führt nun an Bahngleisen entlang, die von  Hameln nach Bad Pyrmont führen. Der Emmerweg folgt ihnen durch grüne Wälder und sanfte Hügel. Erst geht es hinauf, dann wieder hinunter, an Getreidefeldern entlang, deren noch unreife Halme schon bis an die Hüfte reichen. Wald, Felder, Hügel - eine endlose Folge. Kilometer reiht sich an Kilometer. Mittendrin liegt der Ort Welsede mit seinem großen Gehöft. Der Weg macht einen Bogen um die Steinmauer, der Blick auf das dahinter liegende Gutshaus wird mir so verwehrt. Ein schnelles Foto bannt ein Informationsschild auf die Speicherkarte des Smartphones, für spätere Recherchen, denn auch hier bleibe ich nicht lange stehen. Dann geht es das zweite Mal über den Emmer. Nein, es ist nur der Mühlenbach, zu schmal ist der Flussarm für den Emmer. Früher hat das Wasser eine Mühle angetrieben und heute liefert es für das Gut den Strom. Erst unter der nächsten Brücke fließt der Emmer hindurch, er ist viel breiter als der Mühlenbach.

Überhaupt, wo ist er die ganze Zeit gewesen? Obwohl es der Emmerweg ist, auf dem ich gehe, hat sich der Fluss bisher rar gemacht.

Steil geht es nach Löwensen hinab. Bis zur gebuchten Pension ist es jetzt nicht mehr weit. Rechts von mir liegt der Königsberg, zum Abschluss wollte ich ihn eigentlich noch besteigen, um die Aussicht über Bad Pyrmont vom hohen Bismarkturm zu genießen. Aber jetzt fehlt mir die Lust und auch die Energie dazu. Gleich die Füße hochzulegen ist auch eine gute Aussicht. Die Klingel an der Haustür meiner Pension lässt oben im Haus ein Fenster öffnen. „Einen Moment, bitte“. Kurz darauf werde ich vom Pensionswirt eingelassen. Ich bekomme ein schönes Einzelzimmer. Auch wenn ich müde bin, für das Abendessen muss ich noch in den Ort gehen. In der Brunnenstraße, der Fußgängerzone von Bad Pyrmont finde ich im Ratskeller, was ich suche: Spargel mit Schinken. Ein Bier rundet diesen herrlichen Wandertag ab.


2. Tourtag (8.6.15)

Bad Pyrmont war früh bekannt, bereits 1556 sollen Menschen aus ganz Europa hier her gekommen sein, um durch wundertätige Quellen Heilung zu finden. Von diesen Quellen profitiert die Stadt noch heute, viele mondäne Gebäude belegen dies. Auch das Glücksspiel hat zum Ruf der Stadt beigetragen.

Wenn man schon in Bad Pyrmont ist, dann muss man es sich auch ansehen. Deshalb habe ich mein Frühstück für acht Uhr bestellt.

"Geht auch acht Uhr fünfzehn? Da kommen dann auch die anderen Gäste", fragt der Wirt.

Ja, das geht auch. Zu dritt im Frühstücksraum nehmen wir ein gutes Frühstück zu uns.

Die Brunnenstraße, durch die ich nun zum zweiten Mal gehe, ist heute morgen wesentlich belebter als gestern Abend. Für eine Stunde bin ich Tourist, besuche den Brunnenplatz, das Goethehaus, das altehrwürdige Hotel Fürstenhof, flaniere am großen Hotel Steigenberger vorbei, sehe das alte Staatsbad von außen, gehe die Allee der Heiligenangerstraße entlang. Den Kurpark und den Palmengarten lasse ich aus, denn es kostet 4€ Eintritt ohne Kurkarte, sagt der Mann am Schalter. Es soll einer der Schönsten Deutschlands sein und wäre sicherlich den Besuch wert.
Dann treibt es mich die Schlossstraße entlang, Richtung Schloss und Festung. Vor der Brücke, die über den Schlossgraben führt, bleibe ich fasziniert stehen, blicke nach oben zum Schloss. Es ist ein wundersamer Anblick: unten die Mauer der Festung, umgeben von einem Burggraben, darüber das prunkvolle Schloss. Es wurde 1536 als Sommerresidenz des Grafen von Spiegelberg erbaut. Nach hundert friedlichen Jahren war es im dreißigjährigen Krieg Schauplatz zahlreicher Auseinandersetzungen, in dessen Verlauf es fast vollständig zerstört wurde. 1710, also erst viele Jahre später, war ein neues Schloss fertiggestellt. Stetig wurde daran gebaut, verändert und ergänzt, bis es ab 1855 sein heutiges Aussehen behielt.
Die Symbiose aus Burg und Schloss begeistert mich. Hier die wehrhafte Kraft der Festungsmauern, die dem Feind trotzt, dort die leichte Eleganz eines Schlosses, das sich öffnet und einlädt zu rauschenden Festen.
So flitze ich hin und her, laufe auf Burgmauern entlang, schaue durch Schießscharten auf die Stadt, tauche ein in die Tiefen der Festungskasematten, kann sogar die Soldaten in ihren Rüstungen erahnen, wie sie in dunklen, aber schützenden Gewölben gegen den Artilleriebeschuss der feindlichen Truppen ausharren. Zehn Monate trotzten sie und mussten doch am Ende aufgeben.
Schließlich gehe ich – widerstrebend - weiter. 

Südlich von Bad Pyrmont verlasse ich Niedersachsen und betrete das dritte Bundesland meiner Wanderung: Nordrhein-Westfalen.

Der Ort Lügde grüßt den Wanderer auf seiner Ostseite mit einem hässlich ausschauenden Gewerbebetrieb. Die Idylle eines am Wegesrand liegenden Bauernhofes mit freilaufenden Hühner, die neugierig gackernd heran wackeln und mir zwischen die Beine geraten, können darüber nicht hinwegtäuschen. Wenn sich ein Ort dermaßen von seiner schlechten Seite präsentiert, will der Wanderer ihn auf der anderen Seite, sofern er denn durch den Ort muss, schnell wieder verlassen. Lüdge allerdings kann mit einem so schönen alten Ortskern auftrumpfen, das der Ortseingang schnell vergessen ist. Auch können sich die 10.000 Einwohner mehreren Kirchen erfreuen, was ein Ort dieser Größe nicht vermuten läßt. Ich steuere die katholischen Pfarrkirche Stankt Marien an und mache in der Kühle des großen Gotteshauses Rast. Ich sitze auf einer Bank des Mittelschiffs, wende den Kopf hierhin und dorthin, betrachte die neugotische Architektur, die das hohe Kirchenschiff formt. Dann ruht mein Blick auf dem einen riesigen, bunten Bleikristallfenster, das über dem Hauptaltar thront. Jedes Detail ist mir wichtig. Lange sitze ich. Ich liebe Augenblicke wie diese in der Stille einer Kirche, die mir so ruhevolle Muße schenkt. Endlich erhebe ich mich zu einem Rundgang, der mich zu einer Schnitzfigur führt. Ihr Anblick fesselt mich. Ein alter, bärtiger Mann sitzt im Zentrum, scheinbar erschöpft, vielleicht schon tot. Gehalten wird er von einem jüngeren Mann, vermutlich ist es Jesus, der ihn mit dem linken Arm stützt. Dabei beugt er sich schützend über den Alten, hält seine rechte Hand hoch, zwei Finger gestreckt, um ihn zu segnen. Er schaut dem Alten dabei direkt in die brechenden Augen. Dieser hat beide Hände wie zum Empfang des Segens geöffnet, die Rechte ist erschlafft niedergesunken, die Linke hingegen wird von der Hand einer Frau, vielleicht Maria, gestützt. Sie zeigt mit dem Finger der anderen Hand auf den Segnenden und schaut ihn dabei an. Sehr lange stehe ich vor der hölzernen Schnitzarbeit in Lebensgröße, muss immerzu zu ihr auf aufsehen. Was ist es, was mich an dieser Skulptur so in den Bann zieht? Es lässt mir keine Ruhe und so suche ich später im Internet, finde zunächst nur, dass der Namen der Skulptur lautet: „Tod des heiligen Josef von Mormann“. Wer ist das, frage ich mich? Ich bin nicht bibelfest. Später komme ich drauf, dass es Joseph von Nazareth sein muss, der Ehemann von Maria und damit der gesetzliche Vater von Jesus. Damit wird es mit klar: die beiden Figuren links und rechts sind Jesus und Maria, die um ihren toten Vater und Ehemann trauern. So kann ich im Nachhinein diese Wissenslücke noch schließen, dem Internet und Wikipedia sei Dank.

Schließlich verlasse ich die Kirche und bald auch die kleine Stadt auf ihrer Südseite, gehe vorbei an der noch völlig intakten Stadtmauer. Dahinter liegt der Wallgraben, beides soll schon im 12. Jahrhundert entstanden sein. Ich wundere mich über die geringe Höhe der Mauer, mit der offenbar Barbaren abgehalten werden konnten, die Stadt zu erobern.

Kurz hinter Lüdge kreuze ich wieder einmal den Emmer, von dem ich auch heute bislang wenig zu sehen bekam.

Es geht eine schmale Straße hinauf, vorbei an einem kleinen Café mit dem lustigen Namen Ponderosa. Erinnerungen an meine Kindheit flackern auf. Vor dem geistigen Auge erscheinen Bilder aus der alten US-Serie Bonanza, die meine Kindheit begleitete. Immer sonntags war Fernsehzeit, keine Serie wurde ausgelassen, wenn die Cartwrights über die Prärie ritten. Ben, Adam, Little Joe und der dicke Hoss. Die Assoziation ist wohl gewollt, denn Pferde laufen auch hier auf der Koppel. Aber anstelle der Cowboys ist es hier ein Mädchen, dass einem glänzenden Rappen die Hinterläufe striegelt. Das kräftige, pechschwarze Tier genießt die Behandlung anscheinend sehr, denn es hält ganz still. Ich schaue ein wenig neidisch herüber. Meine Waden könnten eine Massage auch gebrauchen.
Ganz allmählich verliert sich der Weg in den Höhen. Der Straßenlärm, der vom Tal herauf schallt, verfliegt nach und nach, verstummt schließlich ganz. Vogelgezwitscher tritt an seine Stelle. In Stereo. Ein Vogel zwitschert links, ein anderer antwortet von rechts. Ein endloser Kanon aus vielen Vogelkehlen lullt mich ein, erzeugt die meditative Ruhe, die der Wanderer sucht. Die Füße finden wieder ihren Weg von ganz alleine. Geschenkte Zeit, um Gedanken nachzuhängen. Sie kommen und gehen, verlieren sich in Zeit und Raum, verblassen, um zurück zu kehren, bringen neue Impulse mit, die gleich darauf schon wieder vergessen sind. Unmöglich, sie jetzt - im Nachhinein – wieder aufzuspüren. Aber sie wirken im Unterbewusstsein, dessen bin ich gewiss.
Mein Weg führt am Schieder See vorbei, der Emmer wird zum Stausee, der hier Ende der 1970er Jahre angelegt wurde, um die Altstadt von Lüdge vor dem Hochwasser der Emmer zu schützen, was wohl gelang. Neben der Schutzfunktion hat sich im Laufe der Zeit ein Naherholungsgebiet entwickelt. Aber davon sehe ich nichts, denn ich gehe auf der nördlichen und damit vermutlich falschen Seite den Sees entlang. Doch der Emmerweg will es so. Die südliche Seite wäre die Bessere gewesen, denn dort reicht der Wald bis zum See. Ich aber bleibe durch eine vorbeilaufende Bahntrasse getrennt vom Ufer des Sees, das eh steinig und nicht einladend ausschaut. So bleibt die extra mitgenommene Badehose im Rucksack. Eine Abkühlung wäre mir willkommen gewesen, denn es ist heiß geworden, Schweißperlen kullern von meiner Stirn. Die Sonne scheint aus klaren Blau, nur vereinzelt sind weiße Tupfer in den Himmel gemeißelt. Nach drei Kilometern ist der See zu Ende. Wieder überquere ich den Emmer und nun auch die Bahnschienen, gelange in den Kurpark von Schiede. Der Weg führt zum Schloss Schieder hinauf, das erst im 18. Jahrhundert im Klassizismus-Stil Bau errichtetet wurde. Es ist klein, schlicht und anmutig. Auf der Rückseite wird die Terrasse für das Kuchengeschäft klargemacht, Sonnenschirme werden aufgespannt und Stühle zurecht gerückt. Es ist fünfzehn Uhr. Kaffeezeit! Aber ich lasse mich nicht locken, kaufe mir stattdessen eine Banane und einen Apfel im nahegelegenen Supermarkt.

Zurück im Wald geht es an Bäumen vorbei, die milden Schatten spenden. Ich erklimme eine Anhöhe. Dort endet der Wald. Ich folge nun einem mit Gras bewachsenen Feldweg, schön frisch gemäht. Zum ersten Mal frage ich mich, wer wohl alle diese wunderbaren Wanderwege, die ich bereits gegangen bin, so herrlich in Ordnung hält. Warum frage ich es mich gerade jetzt? Vielleicht, weil die Antwort geradewegs vor mir steht! In Gestalt eines älterer Herrn im roten Sweatshirt, zünftig gekleidet mit Wanderhose und –stiefeln. Über die Straße gebeugt, sieht er mich nicht kommen. In der einen Hand hält er eine Spraydose, in der anderen Hand einen Besen. Er wirkt sehr beschäftigt, kehrt mit dem Besen erst den Boden, um danach einen weißen Pfeil auf die Straße zu sprayen. Ich bleibe eine Weile vor ihm stehen, bis er mich schließlich bemerkt. Da kommt er aus gebückter Haltung hoch, schaut mich verwundert an.
„Die Wege hier sind alle so gut in Ordnung und frisch gemäht. Wissen Sie, wer das hier so macht?“, frage ich einfach so drauflos. 
„Ich“, sagt er. „Ich bin hier der Wegewart.“
Damit hatte ich nicht gerechnet. Kaum stelle ich mir die Frage, schon erhalte ich die Antwort.
„Im Moment zeichne ich allerdings den Weg für den Volkslauf aus.“

Daraufhin erzähle ich ihm, dass ich aus Hamburg komme und im April dort den Marathon gelaufen bin. „Da war ich auch, aber nur als Zuschauer“, erwidert er, „ich habe meine Tochter besucht, die wohnt auch da.“ Nach einer kleinen Plauderei verabschiede ich mich, nicht ohne mich zu bedanken für seine Mühen als Wegewart.
„Viel Glück auf dem weiteren Weg und dass Sie heil in Konstanz ankommen mögen“, ruft er mir noch nach.

Einen Hügel weiter wechselt der Weg auf einen Bergwanderweg. Es wird schmal und immer schmaler, das Gras wächst wild und immer wilder. Ich denke nur: Zeckenalarm! Die Angst vor Borreliose keimt kurz auf. So lasse ich trotz der Hitze die aufgekrempelten Hosenbeine herunter, die Hose bedeckt jetzt die nackten Beine. Schwitzen ist besser als Zeckenbiss! Der Weg führt hinauf, vorbei an einsam liegenden Feldern, rote Mohntupfer ragen aus dem satten Grün des reifenden Getreides. Dann plötzlich ist endgültig Schluss mit dem Emmerweg; er wird unpassierbar. Hier ist bestimmt nicht der nette Wegewart von vorhin zuständig, oder doch? Ich weiche auf eine Wiese aus, kein Zaun verhindert den Zugang. Hier ist schon jemand vor mir gegangen. Ich folge den Spuren, die sich durch die Wiese ziehen. Es geht durch kniehohes Gras, reife Samen streifen meine Hosenbeine. In der Ferne schimmern die Halme rötlich, während sie sich im leichten Sommerwind wiegen. Viele hundert Meter geht es über die Wiese eine Anhöhe hinauf. Oben angekommen, ist Steinheim in Sicht. Die Wiese wird von einem Zaun begrenzt, auf dessen anderen Seite der Weg liegt, hier wieder wunderbar gemäht und gut begehbar. Ich schmeiße den Rucksack über den Stacheldraht. Nein, so war es nicht! Ich lege ihn vorsichtig auf der anderen Seite ab und steige sehr vorsichtig über die Stacheln. Endlich bin ich zurück auf dem offiziellen Emmerweg, der nun weiter an der Wiese entlang führt. Er macht eine Biegung nach links, führt durch ein kleines Wäldchen, macht noch eine Biegung nach rechts und - da ist ein Gatter zur Wiese. Es ist offen. Das Klettern über den gefährlichen Stacheldrahtzaun wäre unnötig gewesen, wenn ich mehr Geduld gehabt hätte. Offenbar war der zuständige Wegewart der Meinung, dem Wanderer eine neue Erkenntnis zu verschaffen:

"Sei nicht voreilig“.

Danke, lieber Wegewart.

Es ist nun nicht mehr weit bis nach Steinheim. Nur noch einen Hügel hinab, dann durch den Ort ins Zentrum. Am Bahnhof liegt mein Hotel für die heutige Nacht. Es wirbt mit dem Slogan: "Wir wollen, dass Sie sich wohlfühlen und mit hohem Komfort zu angenehmen Preisen Steinheim genießen“.  
Das hat mir gefallen, als ich vor der Wanderung nach einer Unterkunft suchte. Nun stehe ich in einer leeren Bahnhofshalle. Ein Automat übernimmt den Check-In Vorgang - ganz vollautomatisch. Ich hätte lieber einem Menschen in die Augen geschaut und zusammen mit dem Zimmerschlüssel ein paar nette Willkommensworte entgegen genommen. Schließlich bin ich von weit her bis hierher gewandert. Aber die Zeiten ändern sich und ich hätte mir auch ein anderes Hotel aussuchen können. Der Automat bekommt es hin, in wenigen Augenblicken halte ich meine Plastikkarte für das Hotelzimmer in der Hand. Das „Sesam öffne dich“ zu meinem schicken, modernen und tatsächlich komfortablen Hotelzimmer für die Nacht.

Steinheim am Montagabend muss man sich so vorstellen:  
Montag ist Ruhetag. Das bedeutet, alle Geschäfte, sämtliche Restaurants und wirklich alle Kneipen haben geschlossen. Man begegnet keinem Menschen, die Straßen sind wie leer gefegt. Die Steinheimer haben sich offenbar abgesprochen, wollen hungrige Wanderer wie mich aus der Stadt vertreiben. Alle Steinheimer? Nein! Denn da gibt es die eine Bar, die offen hat. Es ist die Cosmo:Lounge, die sich mir hungrigen Wanderer erbarmt. Dazu auch der Stadtjugend, die sonst keinen Platz findet in dieser Stadt. Ein Tisch ist noch frei, ich setzte mich, umgeben von Jungs und Mädels, die an ihrer Cola saugen. Ich bestelle ein feinsüffiges Krombacher Pils, es kommt in einem richtig großen Glas. Dazu gesellt sich eine Pizza Tonno. Sie ist lecker, heiß und knusprig. Während ich esse, ruht mein Blick auf der ultramodernen Bar, der gläserne Tresen tränkt sich in Blau, dann folgt Weiß, Rot und Pink. Das Farbenspiel folgt einem festen Rhythmus. Ich nutze das kostenlose WLAN, um ein paar Nachrichten über das vielseitig einsetzbare Smartphone in die Welt zu pusten. Das lenkt ab von dem unerhörten Lärmpegel des aus jungen Kehlen entstammenden Stimmengewirrs.
Es wird spät an diesem Montag in Steinheim und deshalb höre ich in der Nacht keinen vorbeifahrenden Zug, obwohl das Fenster wegen der Wärme weit geöffnet ist.

3. Tourtag (9.6.15)

Das Hotel bietet ein kleines Frühstücksbuffet im Kiosk der Bahnhofshalle an. Danach endet der Hotelaufenthalt so unpersönlich, wie er begonnen hat. Die Plastikkarte, mein Schlüssel zum Hotelzimmer, verschwindet beim Verlassen des Hotels im Briefkasten. Kein Auf-Wieder-Sehen, kein aufmunterndes Wort für den Weg. Davon abgesehen hat es mir hier gefallen. Es ist ein gutes Nutzungskonzept für sonst sterbende Bahnhöfe.

Der Weg begleitet nun den Flusslauf des Emmer, rechts und links liegen Felder, die zum Horizont reichen, wo eine Baumreihe mit dem Himmel verschmilzt. Dunkle Wolken in allerlei Grau saugen Wasser aus ihnen, stillen ihren Durst, werden allmählich satt, wandern weiter und werden ihre Last sicher irgendwo wieder los werden wollen. Aber noch saugen sie. Es ist trocken.

Ich komme zügig voran. Nach zehn Kilometer erreiche ich Nieheim, der Weg mündet auf eine Straße, die in die Innenstadt führt. Bunte Vorgärten schmücken den Weg. Gelegentlich ist auch ein Gemüsegarten dazwischen. In einem von ihnen hackt ein altes Weib in gebückter Haltung Unkraut aus dem Kohlrabi. Für mich als Großstädter ein bemerkenswertes Bild.

Im Zentrum lädt Sankt Nikolaus, eine große Kirche, zum Verweilen ein. Wieder ein Ort, der mir Ruhe bietet. Offenbar ziehen Kirchen mich an. Viele Gegenstände gäbe es im Innern zu bewundern, sogar eine Ritterfigur. Mich interessiert allerdings mehr ein Erker. Lange stehe ich davor und betrachte detailliert, was es zu sehen gibt.

Das habe ich gesehen: an der rückwärtigen Wand die hölzerne Jesus-Figur, ans Kreuz genagelt, die Finger und Füße von Nägeln durchbohrt. Es sieht aus, als hätte er seinen neunstündigen Todeskampf bereits hinter sich, denn der Kopf ist nach unten gebeugt und die Augen sind geschlossen. Doch noch steht sein Körper aufrecht und die Knie sind durchgedrückt. Er sieht nicht leidend aus - und doch hat er alles Leiden der Menschheit auf sich genommen. Ein Schild über ihm wurde ans Kreuz genagelt. INRI steht mit großen Lettern darauf (Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum, Jesus von Nazaret, König der Juden). Sein Peiniger Pontius Pilatus ließ es zur Begründung seiner Schuld anbringen, wie es 30 n.Chr. üblich war. Links und rechts neben dem Gekreuzigten stehen zwei Frauen. Die eine ist blau gewandet, der Kopf vom weißen Kopftuch halb verdeckt, die Hände sind gefaltet, ihr Blick ist Jesus zugewandt. Vielleicht stellt sie seine Mutter Maria dar. Rechts eine junge Frau in rotem Gewand, ihr Kopf hängt vor Trauer, ihr Blick ist nach unten gerichtet, die Hände sind ebenfalls gefaltet. Vielleicht ist es seine (Halb-) Schwester Maria. Besser gefällt mir die Vorstellung, es sei Maria Magdalena, seine liebste Gefährtin, eine von mehreren Frauen, die Jesus nachfolgten und für seinen Unterhalt sorgten, während er predigte. Allerdings soll sie sich bei der Kreuzigung im Hintergrund gehalten haben.
Mehr noch als die Figuren interessiert mich das ausliegende Buch. Es ist vor dem Gekreuzigten im Zentrum des Erkers  aufgestellt, von bunten Blumensträußen gesäumt, aus denen zwei weiße Kerzen ragen. Sie brennen nicht. Ich trete näher heran, lese scheu auf der aufgeschlagene Seite von jemandem, der Gott dankt, ein anderer bittet um seinen Segen, wieder einer bittet um Bestand. Vorsichtig blättere ich ein paar Seiten zurück, berühre das Papier kaum. Verzweifelte Worte kann ich lesen, auch Verbitterung. Ich selbst hinterlasse keine Botschaft, schreibe keine Zeile in das Buch, denn ich glaube nicht in der Weise, wie es die Kirche lehrt. Es berührt mich dennoch. Leise ziehe ich mich zurück, verlasse - in Gedanken versunken - diesen heiligen Ort.

Auf der Straße, zurück gekehrt in die Welt, meldet sich Hunger. Gegenüber hat ein Bäcker geöffnet und während ich die leckerste Frikadelle meines Lebens genieße, rücke ich meine Gedanken zurecht

Viele Minuten später geht es weiter, tausend Schritte trennen mich bereits von Nieheim, als ich mitten im tiefsten Wald entferntes Motorengeräusch wahrnehme. Es ist nicht wie sonst, es ist nicht das unangenehme Zischen von Autos, die eine Straße entlang eilen, sondern es klingt kernig und satt. Es ist der Klang von Motoren mit sehr viel Hubraum, die bei hoher Drehzahl ihre Kraft entfalten dürfen. Es ist mal ein tiefes Röhren, dann ein lautes Dröhnen, gefolgt von quietschenden Geräuschen, wie reibendes Gummi auf Asphalt. Hier wird offenbar im Grenzbereich gefahren, Höchstleistungen am Limit in engen Kurven erbracht. Ein Blick in die Karte gibt Auskunft: es ist die „Test- und Präsentationsstrecke Bilster Berg“, auf der wohl gerade ein Fahrer seine Rennmaschine im großräumigen Kreis herum hetzt. Das Motorgeräusch kommt schnell aus der Ferne näher, wird lauter, schwillt infernalisch an, entfernt sich wieder, schwillt ab und erstirbt schließlich in der Ferne. Nach kurzer Dauer wiederholt sich das Hörspiel. So geht es Runde um Runde, viele Male, die das Fahrzeug in hoher Geschwindigkeit mit wechselnden Gängen und Drehzahlen zurücklegt. Ich gehe lange an der Rennstecke entlang, ohne je einen Blick auf die Strecke erhaschen zu können. Zu gut ist sie durch hohe Erdhügel abgeschirmt, die vermutlich dem Lärmschutz dienen, vielleicht aber auch als Sichtschutz gedacht sind. Im Internet lese ich später: „Das Bilster Berg Drive Resort – die Test- und Präsentationsstrecke mitten in Deutschland. Das parkähnlich angelegte Gelände bietet gleichzeitig einen adäquaten Rahmen für Fahrzeugpräsentationen, Produkteinführungen, Events und Incentives auf und neben der Strecke. Der 4,2 Kilometer lange selektive Naturrundkurs ist in die gegebene Topografie eingebettet, und Rallye- wie Le Mans-Legenden, aktive Profis und Formel-1-Fahrer schwärmen von der anspruchsvollen Streckenführung…“.
Wenige hundert Meter weiter, am südlichen Ende der Rennstrecke, wartet gleich noch eine Attraktion auf mich:

die Telegrafenstation Nr. 32, die auf dem Bilster Berg steht. Sie ist eine von einundsechzig Stationen, die vor bald 200 Jahren, 1832, errichtet wurden, um Depeschen von Berlin nach Koblenz über eine Entfernung von 550km in nur eineinhalb Stunden visuell zu übermitteln. Ein reitender Bote brauchte dafür vier Tage. Nachrichten wurden mittels eines dekadischen Zahlensystems von Station zu Station übermittelt. Es gab 4096 definierte Stellungskombinationen, die über sechs Telegrafenflügel dargestellt wurden und Zahlen symbolisierten, denen mittels geheimer Codebücher Wortbedeutungen zugeordnet waren. Aber kaum zwanzig Jahre später war die Technik bereits überholt. Die Anlage wurde abgewrackt und 1984 wieder neu aufgebaut, dieses Mal für touristische Zwecke.
Technik kann einen Mann beeindrucken, er vergisst darüber schon einmal das Wandern und verbringt viel Zeit damit, die Infotafel sehr genau zu studieren. Und auch der herrliche Blick ins Tal hält mich hier. 

Irgendwann aber muss man weiter.

Wieder Wald und noch mehr Wiesen. Einmal geht es an weißen Kühen vorbei, die mit ihren Kälbern und –das ist selten- ihrem Bullen -widerkäuend auf der Sommerwiese lungern. Es sieht nach einer glücklichen Kuhfamilie auf Sommer-Urlaub aus.
Am Mühlenbach laufe ich am abzweigenden Weg vorbei, das merke ich erst hundert Meter später. Der Pfad ist nicht zu erkennen gewesen, denn er ist zugewachsen. Aber Komoot kennt den Weg und so finde ich ihn schließlich. Den Mühlenbach quere ich auf einer Holzbrücke, die bereits stark vermodert ist, die Balken löchrig. Wird sie mich noch halten? Sie tut es.

Schließlich erreiche ich Erpentrup. Der kleine Ort, hält einen technischen Leckerbissen für mich bereit, den ich hier nicht vermutet hätte.
Ein gemütlich wirkender Mann steht vor der Garage seines Hauses, putzt an einem Gefährt herum, das man nicht alle Tage zu sehen bekommt. Der schwarze Lack ist verwittert, die Reifen sind schmal, vorne steckt eine Kurbel, mit der das Automobil angelassen werden kann. Es interessiert mich, etwas über dieses Auto zu erfahren. So spreche ich den Herrn an. Er lässt sich, etwas widerwillig, auf ein Gespräch mit mir ein. Vielleicht wird er zu oft von vorbeiziehenden Fußgängern auf den Oldtimer, der vor der Garage steht, angesprochen. Vielleicht halte ich ihn von einer liebgewonnenen Tätigkeit ab, der er viel lieber nachgehen würde als sich mit einem neugierigen Wanderer zu unterhalten. Aber ich stelle Fragen und er redet sich warm. Erzählt mir, dass die schwarze Droschkenkutsche ein Rover Ten, Baujahr 1933 sei. Mit Rechtslenkung, weil es aus Großbritannien stammt. Außen wie innen ist es noch der Restauration bedürftig.
„Gestern bin ich ihn das erste Mal gefahren. Ich will ihn wieder zulassen, mit einem H-Nummernschild“, meint er stolz. Ein historisches Nummernschild mit Dauerzulassung und regelmäßigem TÜV.
„Aber der Lack bleibt, wie er ist. Das ist noch der Originallack, den darf man nicht übermalen.“
Aha, denke ich und betrachte die mächtige, verwitterte Motorhaube, die so gar nicht glänzt und hier und da zarte Roststellen aufweist.
„Interessieren Sie sich für Motoren?“, fragt Herr Pott, der mit mittlerweile erzählt hat, dass er in Motoren vernarrt ist.
„Eher nicht, ich fahre nur einen Smart mit 'nem ganz kleinen Motor.“
Es hält ihn nicht davon ab, die schwere Garagentür zu öffnen und mich einzulassen in sein Heiligtum. Was ich zu sehen bekomme, lässt mich staunen: direkt hinter dem Garagentor steht eine zwei Meter lange Flugzeugturbine.
„Das ist eine Propellerturbine, voll funktionsfähig. 2000 PS. Wenn ich die starte, würde sie sich aufschaukeln, in der Gegend rumfliegen und alles kaputt schlagen.“
Mein Blick schweift im Raum herum. An der gegenüberliegenden Wand: dutzende alter Röhrenradios im Regal gestapelt, große braune Kästen, aus Holz gefertigt.
„So ein Ding hatten meine Eltern früher im Wohnzimmer“, meine ich.
„Ja, die stammen aus den fünfziger und sechziger Jahren.“
Ein Dreirad mit Motor sehe ich, eine alte Telefonzelle, gefüllt mit allerlei Exponaten. Davor ein altes Notstromaggregat.
„Springt sofort an, braucht aber unheimlich viel Sprit.“
„Eine Garage ist es nicht, eher ein Museum“, denke ich. Damit liege ich nicht falsch, denn ich bin, ohne es zu wissen, in das Motorenmuseum der Familie Pott geraten und Herr Pott, leidenschaftliche Eigentümer, Sammler und Restaurateur alter Maschinen, führt mich gerade darin herum.
„Kommen Sie mal mit“, sagt er und zeigt auf die Treppe, die ins Untergeschoss führt. Und dort stehen sie alle, die alten Diesel-, Benzin, Benzol-, Gas- und Schwerölmotoren, die ich nie zuvor gesehen habe.
„Sie laufen alle noch“, sagt er. Stolz schwingt in seiner Stimme mit. Eine komplette "Elektrizithäts-Centrale", gebaut 1910, mit großem Schwungrad und Schalttafel aus massivem Marmor kann ich bestaunen. Oder ein Schiffsdiesel, zwei Sternmotoren aus alten Flugzeugen. Sogar ein silbrig glänzender V12 Jaguar Motor, Baujahr 1973, ist vorhanden. Er sieht noch ganz neu aus. „Der läuft auch noch wie geschmiert“, meint er.
Damit ist die Führung zu Ende Ich bedanke mich sehr und verabschiede mich.

„Kommen Sie wieder, Sie sind jederzeit herzlich willkommen“, sagt er zum Abschied und wendet sich wieder seinem Oldtimer zu. Als ich mich nach ein paar Meter noch einmal umdrehe, sehe ich ihn selbstvergessen den Spiegel putzen. Ich habe den Motorennarren ins Herz geschlossen.

Das Motorenmuseum von Herrn Pott in Erpentrup

die nachfolgenden Bilder sind mit freundlicher Genehmigung von Herrn Pott der Homepage entnommen:

 http://www.motorenmuseum.de 

Ein Besuch lohnt sich!

Jetzt geht es für ein paar Kilometer am Emmer entlang. Der Fluss hat sich bereits zum Bach verjüngt. Die Vegetation ist üppig, das Flussdelta fruchtbar. Da weist ein unscheinbares Schild auf seine Quelle. Ich folge dem Pfad und erreiche bald die Emmerquelle. Aus aufgeschichteten Steinen sprudelt das Wasser an zwei Stellen hervor, bildet schmale Rinnsale, die sich verbinden und gluckernd als Bach davon plätschern.
Zurück auf dem Emmerweg geht es noch eine Weile durch dichten Wald hinauf. Die erklommenen Höhenmeter bringen mich noch einmal zum Schnaufen und Schwitzen. Dann geht es wieder runter und kurz vor Altenbeken kreuze ich den Eggeweg, der ab der nächsten Wanderetappe mein Leitweg sein wird.

Um 18:27 Uhr sitze ich in der S-Bahn nach Hannover. Von dort bringt mich der ICE pünktlich nach Hamburg. Die Strecke dauert jetzt schon mehr als drei Stunden und ich stelle fest: auch die Zeit der dreitägigen Wanderungen ist bald vorbei. Anfahrt und Rückweg werden nun zu lang.


weiter wandern
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Wandern auf dem E1

Storlien (Schweden) ↔️ Rom (Italien)

206 Tage  | 5.085 km

Touren 2023: 

März: Italien, Via Francigena bis Rom

August: Norwegen, Nordlandsleden




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