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E1-007-D-Schleswig

ich habe Kontakt
ich habe Kontakt

Endlich auf den E1 unterwegs


Bisher ging es ausschließlich nach Norden, heute aber ist die Hauptrichtung Westen. Das geht nicht anders, weil sich die Schlei von der Ostsee kommend tief ins Landesinnere frisst. Und ich heute endlich dem E1 folgen möchte. Und der verläuft nach Schleswig. So werde ich zwar viele Kilometer abspulen, komme meinem nördlichen Ziel Flensburg aber nur wenig näher. 

Exkurs:

Die Erde ist in Breitengrade eingeteilt, die sich vom Äquator aus Richtung Pole ausbreiten. Die Erde ist in zwei Mal neunzig Breitengrade eingeteilt. Hamburg als Ausgangspunkt meiner Wanderschaft liegt auf dem 53. nördlichen Breitengrad. Am dritten Wandertag hatte ich den 54. nördlichen Breitengrad überschritten, es jedoch gar nicht bemerkt, denn die Breitengrade sind ja schließlich nicht an Bodenwellen zu erkennen, sondern lediglich eine Erfindung der Menschen. Der nächste volle Breitengrad, der 55te, verläuft in Dänemark durch Aabenraa. 

Weil die Distanz zwischen den Breitengraden doch erheblich ist, ist er auch in Minuten unterteilt, doch anders als bei einer Uhr sind es 100 Minuten, die einen Breitengrad ausmachen.

Hamburg liegt auf 53°55 Minuten, Eckernförde auf 54°46 Minuten. In sechs Etappen habe ich fast einen Breitengrad in nördliche Richtung absolviert. Durchschnittlich also fünfzehn Minuten pro Wandertag.

Heute werden es nur sechs Breiten-Minuten sein, wenn ich am Abend Schleswig erreiche. Eben weil es an der Schlei in westliche Richtung geht. Dafür schaffe ich mehr Minuten auf dem Längengrad, aber das ist eine andere Geschichte.

Trotzdem sind es dreißig Kilometer zu Laufen.

Das Besondere an diesem Wandertag: ich werde dem Fernwanderweg E1 begegnen und von nun an auf ihm wandern. Ich bin schon sehr gespannt.

Früh stehe ich auf, frühstücke reichlich, schmiere Brote, packe Äpfel und Müsliriegel in den Rucksack. Weil es beim letzten Mal gut tat, lege ich zwei hartgekochte Eier hinzu.

Es soll regnen, vielleicht ein Gewitter geben, womöglich wird die Sonne scheinen. Es ist also heute alles drin und so muss ich mehr Zeug einpacken, um für jedes Wetter gewappnet zu sein. So kommt zum kurzärmeligen noch das langärmelige Fleece in den Rucksack. Oben drauf der Proviant; der kleine Rucksack ist randvoll. Die Regenjacke passt nicht mehr rein, ich ziehe sie gleich an.

Der Bus bringt mich zum Bahnhof, der Interregio nach Kiel. Dort steige ich in den Zug nach Eckernförde. Eine Hundestaffel steigt zu. Die Hunde sollen das Zugfahren üben.

die Hunde vom Altenholzer Hundefreunde e.V. lernen Zug fahren
die Hunde vom Altenholzer Hundefreunde e.V. lernen Zug fahren

So ist die Zugfahrt kurzweilig und vergeht im Nu. Bald stehe ich in Schleswig am Bahnhof, nur eine Schnellstraße trennt mich noch vom Windybyer Noor. Dort soll der Fernwanderweg E1 für mich beginnen, dem ich von nun an folgen möchte. So halte ich nach der Wegmarke Ausschau. Es soll ein weißen Kreuz sein, das ich mir recht groß und gut sichtbar vorstelle, vielleicht in die Rinde eines Baumes geritzt oder auf einen Stein gemalt.

Und tatsächlich: da ist es. Mein allererstes weißes Kreuz entdecke ich auf der groben Borke einer dicken Eiche, wesentlich kleiner, als ich es mir vorgestellt hatte. Große Freude, bin ich doch ab diesem Moment auf dem bekannten Fernwanderweg unterwegs, der vom Nordkap bis nach Sizilien durch ganz Europa verläuft. Nun werde ich zu der kleinen Gemeinschaft von E1-Wanderern gehören, die sich auf dem E1 durch Deutschland oder durch Europa leiten lassen. Mir ist Deutschland vorerst mehr als genug.

die ersten km auf dem E1 führen am Windybyer Noor entlang
die ersten km auf dem E1 führen am Windybyer Noor entlang

Für drei Kilometer geht es am Noor entlang, das sanft und von großer Schönheit ist. Eine lange Allee knorriger Eichen säumt den Weg, mein Blick wandert in das dichte, grüne Blätterdach. Ich bleibe stehen, schließe die Augen, atme tief ein und aus, lasse die Luft sehr bewusst durch meine Lungen strömen. Um mich herum ist es sehr still, auch in mir wird es ruhig.

Ich freue mich so sehr, auf dem E1 unterwegs zu sein, dass ich spontan eine knorrige, alte Eiche umarme. Ihr Stamm ist mächtig, meine Arme reichen nicht einmal halb um sie herum. Ein Spaziergänger beobachtet schmunzelnd mein Tun, dann bietet er mir an, den Moment in einem Foto fest zu halten. Während ich ihm mein Handy reiche, verrate ich ihm, warum ich mich so freue. Der Spaziergänger versteht und achtet darauf, die E1-Markierung mit mir auf das Bild zu bekommen. Viel Glück auf meinem Weg wünscht er mir zum Abschied.

Eine Schutzhütte des E1 liegt am Wegesrand. Weil ich gelesen habe, dass darin manch Wanderer übernachtet, schaue ich sie mir genau an. Fest gebaut ist sie, stabile Wände und ein festes Dach hat sie auch. Sie wird dem Regen wohl gut standhalten. Der Boden dagegen ist dreckig und die Bank in der Hütte so schmal, dass man auf ihr nicht nächtigen kann. Man würde wohl herunterfallen. Ich kann mir nicht vorstellen, in einer solchen Hütte zu übernachten. Aber noch muss ich es auch nicht.

Dann ist das weiße X verschwunden, der E1 muss irgendwo abgezweigt sein. Zurück will ich aber nicht. So folge ich doch wieder der eigenen Route, die ich mir in Komoot zurecht gelegt hatte und die doch nun dem E1 folgen sollte. Aber auch ohne E1-Markierung ist der Weg nach Kochendorf schön, führt er doch durch nahezu unberührte Landschaft.

Der Himmel verfinstert sich, die Wolken werden dunkelgrau und in der Ferne grollt es bedrohlich. Kurz vor Kochendorf beginnt der Regen, ich finde unter dem dichten Blätterdach eines mächtigen Stammes gerade noch rechtzeitig einen Unterschlupf, dann bricht das Gewitter los. Der Himmel nun tiefschwarz, kübelt es wie aus Eimern, Blitze zucken, Donner rollt. Wie weit ist das Unwetter wohl entfernt? Man kann das durch langsames Zählen recht genau bestimmen. Nach einem Blitz zählt man, bis man den Donner hört: "Einundzwanzig, zweiundzwanzig, … siebenundzwanzig." Das sind dann sieben Kilometer bis zum Gewitter. Keine Gefahr vorerst.  Mir fällt das Sprichwort ein: "Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du suchen". Ich stehe unter einer Eiche und sollte also lieber weiter gehen. Doch der Regen spritzt immer noch heftig von der Straße hoch. Ein weiterer Blitz. "Einundzwanzig, zweiundzwanzig..." Donner. Nur noch zwei Kilometer entfernt! Noch ein Blitz. "Vierundzwanzig." Das Gewitter zieht also vorüber. Der Regen lässt auch nach. Ich kann wohl weiter. Doch bald fängt es wieder an zu schütten wie aus Eimern. So schnell die Beine mich tragen, renne ich die Straße entlang. Ein Buswartehäuschen bietet Schutz, dankbar schlüpfe ich ins Trockene.

Ok, dann mache ich eben Mittagspause. Eigentlich ist es zu früh dafür, ich bin ja gerade mal ein Stunde unterwegs. Ich krame den Proviant aus dem Rucksack. Eier und belegtes Brot vertilge ich im Nu, während der Regen immer noch laut aufs Pflaster klatscht. Plötzlich ist es still, der Regen hat schlagartig aufgehört. Ich luge aus dem Häuschen hervor, werde so Zeuge eines seltsamen Schauspiel genau über mir. Die pechschwarze Gewitterwolke weicht in diesem Moment einem makellos blauen Himmel ohne jede Wolke. Die Sonne scheint schon wieder, wärmt und trocknet. Die Straße fängt an zu dampfen. 

Nun kann ich im Trockenen meinen Weg Richtung Götheby-Holm fortsetzen. Der Regen hat jede Menge Schnecken und Frösche von den nahen Wiesen auf die dampfende Straße gelockt, die so zahlreich herum krabbeln, dass ich den Blick nicht mehr heben mag aus Angst, sie zu zertreten.

Entfernung ist relativ.
Entfernung ist relativ.

Mein Blick bleibt auf einer Schnecke haften, die gerade die Fahrbahn überquert. Ich schätze, sie wird dazu noch den ganzen Tag brauchen. Wenn sie auf der anderen Seite angekommen sein wird, bin ich wohl schon in Schleswig. Zeit und Raum sind relativ. Beim Wandern hat man so unendlich viel Zeit, über vermeintliche Nebensächlichkeiten nachzudenken.

Hinter Goetheby treffe ich auf die Schlei. Bald stehe ich vor dem Tor eines großen Herrenhauses, am Tor ein Schild: „Landeserziehungsheim Stiftung Louisenlund“. Hier also liegt das Schloss, das nach dem 2. Weltkrieg zum Internat umgebaut wurde.

das Schloss Louisenlund
das Schloss Louisenlund

Exkurs: Die Schule verfolgt das Ziel, "jungen Menschen eine zeitgemäße, umfassende und ihre Individualität fördernde Schulausbildung zu ermöglichen. Sie sollen Fähigkeiten entdecken und diese auch für das Gemeinwohl einsetzen." „Zukunftsorientierte Selbstverantwortung“ steht laut des Pressesprechers im Mittelpunkt der Schulerfahrung. Ganz billig ist die Ausbildung nicht, denn mindestens 30.000 EUR müssen die Eltern pro Jahr berappen, um ihren Sprösslingen eine derartige schulische Ausbildung nach dem Motto „Lernen, Leisten, Leben“ bieten zu können, Segeln und andere Sportarten sind dann aber schon inklusive. 

Ich gehe um das Schloss herum und an den Stallungen vorbei. Nahe der alten Sonnenuhr bietet eine Bank die Möglichkeit zur Rast mit weitem Blick über Schlei und kleinem Segelhafen, der zum Internat gehört. Ein wenig strecke ich noch die Beine aus, dann geht es weiter.

Ein mächtiger Baum liegt am Weg, aus dem lautes Brummen dringt. Bäume brummen normalerweise nicht. Was hat es mit dem Baum also auf sich? Lange muss ich vor ihm verharren, dann erst erschließt sich mir sein Geheimnis. Auf zarten Blüten, die der Baum trägt, haben sich Tausende von Hummeln und Bienen versammelt, die summen und brummen. Das Rätsel ist gelöst. Für solche Momente wandere ich!

Jetzt wäre ein Kaffee gut! Ich halte Ausschau. Doch in Borgwedel gibt es nichts, auch nicht in Stexwig, doch in Fahrdorf werde ich fündig. 

Schon von Weitem lacht mich das sonnige Schild an, darauf steht in großen Lettern: Rick’s Imbiss. Ich merke, wie sich voller Vorfreude mein Schritt beschleunigt, der Körper dem Imbiss entgegen strebt. Rick hat einen leckeren Cappuccino, den ich vor dem Café im Schatten einer Markise genieße. Und weil's so schön ist, bestelle ich gleich noch einen.

Doch irgendwann muss es weiter gehen, denn zehn Kilometer liegen immer noch vor mir. Es soll noch ums Haddebyer Moor gehen, so sieht der Plan es vor.

jenseits des Haddebyer Noor liegt Haithabu
jenseits des Haddebyer Noor liegt Haithabu

Mein innerer Schweinehund, der auf den letzten Etappen brav war, hat da ganz andere Pläne. Ihm reicht es für heute, er würde jetzt am Liebsten direkt über die Brücke der Haddebyer Chaussee laufen, um nur schnell zum Bahnhof zu kommen. Das Haddebyer Noor würde er einfach links liegen lassen. Ein anderes Mal vielleicht. Ich bin fast geneigt, dem faulen Hund zuzustimmen. Doch auf der anderen Seite des Noors kann ich schon Haithabu und das Wikingermuseum erspähen. Das will ich mir auf jeden Fall näher ansehen. Und wer weiß, ob ich hier noch jemals wieder hin komme.

Mein Schweinehund gibt sich geschlagen und wartet auf eine andere Gelegenheit. Sie wird wohl kommen.

Ein sechs Kilometer langer Umweg führt auf gut ausgebautem Wanderweg oberhalb des prächtigen Noors entlang. Der Weg lohnt sich. Nach etwa einer Stunde kommt man am westlichen Teil eines Ringwalls vorbei, der seit 770 nChr. die Wikingersiedlung Haithabu schützte.

Exkurs Haithabu: Die Lage war günstig gewählt, denn als verlängerter Arm der Ostsee war die Schlei seinerzeit schiffbar. Zugleich führte hier der Ochsenweg vorbei. 300 Jahre lang wuchs Haithabu als Handelsdrehscheibe heran und soll in der Blütezeit mehr als 1.000 Einwohner gehabt haben,. 1050 wurde es während einer Schlacht niedergebrannt und danach nie wieder aufgebaut. Haithabu verschwand im Schlick des Noors. In den 1980gern wurde es ausgegraben und rekonstruiert. Heute gibt es hier einige Nachbauten, die uns das Leben der Wikinger näher bringen wollen. Anstelle des ehemaligen Hafens gibt es nur noch einen Steg, an dem der Nachbau eines Wikingerschiffes, das hier im Schlick gefunden wurde, bewundert werden kann.

Für den Besuch der Siedlung ist es leider zu spät, aber ein Blick von der nördlichen Wallanlage gibt mir auch einen guten Eindruck von der Siedlung. Hinter Haithabu taucht das Andreaskreuz des Fernwanderwegs E1 wieder auf. Eine Informationstafel zeigt an, dass der Wegverlauf des E1 geändert wurde. Ich war auf dem ehemaligen Weg unterwegs. Deshalb also war er verschwunden. Schließlich komme ich wieder zur Haddebyer Chaussee, auf der mich mein innerer Schweinehund schon vor einer Stunde gerne gesehen hätte. Ein Stück geht es noch an der Schlei entlang, gegenüber liegt die schöne Schleswiger Altstadt. Da ist aber auch der Wikingturm, das markante Wohnhaus mit 27 Stockwerken auf neunzig Metern Höhe. Das Bauwerk wurde 1970 erbaut und löste damals heftige Proteste unter der Bevölkerung aus. Der Turm sei viel zu monumental, meinten sie und würde das bis dahin harmonische Stadtbild zerstören. Dieser Meinung bin ich auch.

Wieder sind die letzten zwei Kilometer die längsten der ganzen Etappe und wollen nicht enden. Aber ich bin es jetzt schon gewohnt und irgendwann erreicht man den Bahnhof ja doch. Als ich den Zug besteige, freue ich mich, dass hier schon bald der Startpunkt zur nächsten Wanderung sein wird. So ist ein Abschied gleichzeitig auch Hoffnung auf ein hoffentlich baldiges Wiedersehen. Heute bin ich fast vierunddreißig Kilometer gelaufen und jeder davon - bis auf die letzten zwei - waren schön, friedlich und genussvoll.

Da ich für heute ein Schleswig – Holstein Ticket habe, das ja bekanntlich einen Tag lang freie Fahrt durch Schleswig Holstein bietet und in Kiel gerade die Kieler Woche veranstaltet wird, mache ich noch einen Abstecher dorthin, zische ob der langen Wanderung einige dänische Tuborg, lausche der flotter Musik auf dem Rathausplatz und fühle mich wohl. Erst weit nach Mitternacht fahre ich zurück nach Hamburg und bin glücklich, endlich meine müden Glieder im Bett ausstrecken zu dürfen.


weiter wandern
weiter wandern


Wandern auf dem E1

Storlien (Schweden) ↔️ Rom (Italien)

206 Tage  | 5.085 km

Touren 2023: 

März: Italien, Via Francigena bis Rom

August: Norwegen, Nordlandsleden




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