
Über das Glück
Um acht Uhr gibt es Frühstück, es ist lecker und reichlich, sogar das Ei gibt es nach Wunsch. Ich könne es weich gekocht bekommen, betont unsere Bedienung. „5½ Minuten wären fein“, antworte ich. Als ich es probiere, ist es steinhart. Auf meine Nachfrage bekomme ich zur Antwort, dass es wie bestellt exakt fünfeinhalb Minuten im Eierkocher stand. Nun ist klar, warum das Ei so hart ist, es geht halt schneller im Eierkocher als im gewöhnlichen Kochtopf.
Nach dem leckeren Frühstück machen wir uns auf den Weg. Meine Beine fühlen sich leicht an, die Wanderung vom Vortag spüre ich nicht. Schnell liegt Dorf Bothmer hinter uns, Felder und Wiesen vor uns. Heute verläuft der Weg nicht so gradlinig wie gestern, stattdessen geht es im Zickzackkurs weiter nach Süden. Es soll nach Neustadt am Rügenberge gehen, das fast schon am Steinhuder Meer liegt.

Ich merke schnell: das Wandern zu zweit ist anders. Ich konzentriere mich mehr auf meine Begleiterin als auf die Strecke.
Nach dreizehn Kilometer, die wie im Fluge vergingen, bietet eine Bank Gelegenheit für eine Pause. Sie macht zwar einen vermodernden Eindruck, aber es wird einfach Zeit. Und tatsächlich - beim Hinsetzen knackt es und mein Hintern landet im Gras. Meine Begleiterin schüttelt sich aus vor Lachen und hilft mir dann erst wieder auf die Beine. Der Bank fehlt nun ein Stück.
Nach einer kurzen Pause geht es weiter, wir kommen ins Diskutieren, reden über die wirklich existentielle Frage: „Was braucht man für ein glückliches Leben?“
Die Antwort finden wir nicht sofort, aber auf der Wanderung hat man ja genügend Zeit, um ein Thema zu entwickeln.
Nachdem wir lange hin und her argumentiert haben, lasse ich mich zu in einen langen Monolog hinreißen.
Ich führe aus, dass es zum Glücklich sein nicht wichtig ist, viel zu besitzen. Die Werbung, die uns ständig umgibt, suggeriere uns zwar, das Kaufen glücklich mache. Ich dagegen behaupte, dass die Wirtschaft nur aus einem Grund ein Interesse daran hat, uns viele Waren und Dienstleistungen zu verkaufen. Der sei, Umsatz und Gewinn immer weiter zu steigern. Auch der Staat sei in Wahrheit daran interessiert, das Unternehmen möglichst viel verkaufen. Gute Umsätze würden schließlich automatisch auch ein gutes Steuereinkommen bedeuten.
Die Bemessung unserer Wirtschaftsleistung erfolge, einfacht gesagt, über das Sozialprodukt, einer Kennzahl zur Bewertung der produzierten Endprodukte und Dienstleistungen einer Periode. Je höher diese sei, umso mehr werde produziert und verkauft und umso besser wachse die Wirtschaft.
Ich erkläre, das sei zwar eine volkswirtschaftlich legitime Betrachtung, für den einzelnen jedoch fatal, denn im privaten Sektor werde der Wert eines Gutes oder einer Dienstleistung nur einmal, nämlich zum Zeitpunkt des Kaufes bewertet. Die Nutzungszeit dagegen zählt nicht. Der Wohlstand bemisst sich somit nur über das Kaufen, nicht über das Nutzen und suggeriere Wachstum auch dann, wenn Gegenstände lediglich ersetzt werden.
Nach meiner Wahrnehmung seien Wirtschaftsunternehmen seit einiger Zeit dazu übergegangen, die Nutzungszyklen der Konsumgüter zu senken oder Produkte auf den Markt zu bringen, die suggerieren, dass ihre Vorgänger veraltet seien. So etwas nenne man geplante Obsoleszenz, von den Unternehmen mit genauem Kalkül ausgeführt. Es führt dazu, dass Güter nach vorausberechneten Nutzungszeiten kaputt gingen oder weit vor dem Ende ihrer möglichen Nutzungsdauer veralten. Zusätzlich unterstützt durch Werbung, die uns verspricht, dass Konsum glücklich macht. In Wirklichkeit diene es aber dem Wachstum der Kapitalrendite und der Verteilung der Geldmittel von Arm nach Reich, aber es nützt nicht dem Konsumenten, der dafür sein Geld einsetzen müsse, ohne einen realen Mehrwert zu erhalten.
So gesehen mache Besitz nicht glücklich, er frustriere sogar, weil Gegenstände vorzeitig kaputt gehen. Deshalb wäre es besser, man könne mit Wenigem auskommen. Es wäre smart, wenn jeder von sich aus wissen würde, welche Dinge und Dienstleistungen er besitzen und nutzen möchte. Dabei kommt es nicht nur auf das Wenige an, sondern auch auf das Richtige. Es kommt genau auf das an, was den einzelnen glücklich macht. Und was das ist, kann nur jeder Mensch für sich alleine entscheiden. Die Werbung könne da nicht helfen, denn sie generiere meist Bedürfnisse, die vorher gar nicht vorhanden waren. Durch ausgefeiltes Marketing würde das ewig Neue, das Immer Mehr und das nie Genug suggeriert. Davon sollten wir uns jedoch frei machen und stattdessen auf das eigene Herz hören, denn das könne uns genau erzählen, was es braucht, um glücklich zu sein.
Es wird gesagt, das es vier Säulen sind, die das Glück bedeuten:
- eine gute Gesundheit zu haben
- Liebe geben und empfangen zu können
- gleichmütig und absichtslos zu sein
- nach etwas zu streben, das einen erfüllt
Zu diesen vier Säulen des Glücks möchte ich noch eine fünfte hinzufügen:
"Sich mit genau den Dingen zu umgeben, die das eigene Leben lebenswert machen."
„Und das nenne ich: das Leben right-sizen“, erkläre ich meiner Begleiterin. „Die Reduktion auf das richtige Maß. Was richtig und genug ist, kann jeder für sich selbst herausfinden, indem er in sich horcht und zuhört, was Körper, Geist und Seele erzählen.
Wer es tut und danach handelt, wird glücklich sein.“

So fliegt die Zeit dahin, bald schon ist Nachmittag. Uns würde nun ein Kaffee gut tun. Doch in Wulfelade, wo wir gerade durchmarschieren, ist das Gasthaus geschlossen. Einen Ort weiter aber finden wir, was wir suchen. An den Mauern des Klosters Mariensee prangt ein Schild: „Das kleine Café“. Ein Glücksgefühl durchströmt uns. Und der Kaffee und das Stück Kuchen tun kurz darauf ein Übriges. Später hören wir leise einen Chor. Der Gesang tropft zart aus den Mauern der angrenzenden Kirche und die sanften Frauenstimmen wärmen uns die Herzen. Einen Moment noch verweilen wir, dann hat die Straße uns wieder.
Um siebzehn Uhr erreichen wir den Bahnhof in Neustadt am Rügenberge, rechtzeitig genug, um uns noch ein wenig auszuruhen, bevor der Zug uns über Hannover nach Bothmer zurück bringt. Ein Taxi bringt uns zum Schloss, im Restaurant ist Frau Königbauer schon mit der Zubereitung allerlei Leckereien für uns beschäftigt. Sie kocht nur für uns, wir sind die einzigen Gäste.
Eine schnelle Dusche erfrischt. Kurz darauf sitzen wir glücklich, aber auch erschöpft an dem schön eingedeckten Tisch, genießen Spagetti mit Tomaten - Mozzarella – Sauce an Riesen-Gambas. Das dazu gestellte Bier ist im Nu geleert und verlangt nach Nachschub. Meine Wanderpartnerin prostet mir zu und meint, dass sie mich gerne einmal wieder begleiten würde. Es wäre ganz in meinem Sinne.