Wo die Heide summt
Halb zehn ist Frühstückszeit in Deutschland, so heißt es doch in einer Werbung für Schoko-Waffeln. Doch ich steige gerade erst in Undeloh aus dem Heideshuttle. Für eine Pause ist es noch zu früh, erst einmal soll gewandert werden. In dem kleinen Touristenort ist so zeitig noch kein Betrieb, die angespannten Ackergäule warten vor den Kutschen auf Kundschaft für eine Kutschpartie durch die Lüneburger Heide. Die Touristen werden sicher bald kommen.
Ich gehe schon mal los, sichere mir so einen Vorsprung vor den Touristenströmen.
Noch ist der Himmel bewölkt, später soll es aufklaren. Heute habe ich große Lust zum Wandern. Also los. Zunächst geht es weiter durch den Heidewald, der in der grauen Morgenstimmung ebenso morbid wirkt wie auf der letzten Wanderung.
Beim Gehen drehen sich meine Gedanke etwas im Kreis. Ich denke über das nächste Wanderjahr nach.
Die Touren sind immer weiter vom Ausgangspunkt Hamburg entfernt und bald ist es vermutlich zu weit, um eintägige Touren zu unternehmen. Irgendwann werde ich wohl oder übel irgendwo zwischenübernachten müssen.
Mir gehen verschiedene Übernachtungsmöglichkeiten durch den Kopf.
Ich denke über Zeltübernachtungen nach. Es soll ja Ein-Personen-Zelte geben, die weniger als 2 kg wiegen. Es würde aber bedeutet, dass ich nicht nur Zelt, sondern auch Schlafsack und mehr Verpflegung auf dem Rücken schleppen muss. Will ich das?
Ich könnte auch mit einem Miniwohnwagen unterwegs sein, den ich hinter meinen Smart hänge. So etwas gibt es, ist aber teuer. Und es wäre nicht praktisch, denn ich müsste den Wagen nach einer Wanderung immer nachziehen, dafür ein Stück mit der Bahn zurück fahren. Ich wäre gezwungen, in der Nähe von Bahnstrecken zu bleiben, um abends einen Bahnhof zu erreichen. Das schränkt natürlich ein und macht das Wandern auf dem E1 vermutlich unmöglich.
Ich könnte auch in Pensionen oder Hotels übernachten. Aber die sind vielleicht nicht dort, wo ich sie zum Übernachten brauche. Oder sie wären ausgebucht.
Die Gedanken drehen sich unentwegt im Kreis und keine der Optionen gewinnt die Oberhand.
Ich kann es einfach nicht gelassen auf mich zukommen lassen. Ich mag nicht einfach so auf gut Glück mit einem gut gepackten Rucksack losziehen und schauen, was am Ende eines Wandertages auf mich wartet. Aber im Winter, der jetzt noch so fern scheint, werde ich sicherlich genügend Gelegenheit haben, mir weitere Gedanken zu machen. Einstweilen schiebe ich sie zur Seite.
Das Wandern wird für mich zu einer Beschäftigung, der ich immer mehr Zeit widme. Zum einen sind es die Wanderungen selbst, die meine Wochenenden bestimmen. Seit Monaten bin ich meist Samstags unterwegs, während der Sonntag der Regeneration dient. Zum anderen nimmt das Vorbereiten der Touren viel Zeit unter der Woche in Anspruch, weil ich gründlich plane.
Für die Planung hat sich ein festes Schema etabliert:
zunächst plane ich die als nächstes anstehende Etappe grob und schaue, ob ich dem E1 folgen kann oder ob der Fernwanderweg wieder einmal einen zu großen Schlenker vorsieht, dem ich nicht folgen möchte. Schließlich möchte ich ja irgendwann am Bodensee ankommen. Im zweiten Step wird die Planung detailliert, damit die Route möglichst wenig auf Straßen, sondern auf Wanderwegen verläuft.
Den groben Planungsprozess unterstützt die Komoot-Software ganz gut. Ich muss nur Start und Zielpunkt eingeben und oft bietet Komoot mir Wege an, die dem Verlauf des E1 folgen. Doch manchmal ist mir das nicht gut genug. So nimmt die Vorbereitung viel Zeit in Anspruch.
Doch ich empfinde es als sinnvoll verbrachte Freizeit. Und es entwickelt sich zu einer Leidenschaft.
Der Wald öffnet sich, die offene Heidefläche liegt nun vor mir. Ja, so wollte ich es haben!

Bald darauf steigt das Gelände sanft an. Bunte Blumen säumen den Sandweg, die ich nicht beim Namen kenne. Ich kann nur den roten Teppich zuordnen: Heidepflanzen. Wunderschön und absolut still ist es.

Vor mir liegt der Wilseder Berg, der immerhin 160 Meter hoch ist und mich zum Schnaufen bringt. Ich bin halt nur ein Flachlandtiroler, der keine Berge gewohnt ist. Oben ist ein Aussichtspunkt, von dem man weit in die Heide blicken kann.
Ein Radfahrer will gerade auf sein Rad steigen. Ich bitte ihn, schnell ein Foto von mir zu machen, damit ich auch mal eines von mir habe. Während ich ihm mein Smartphone in die Hand drücke, kommen wir auch schon ins Gespräch. Er erzählt von seiner viertägigen Radtour durch die Heide, die er gerade unternimmt. Er ist alleine unterwegs, radelt hundert Kilometer am Tag. Als ich höre, dass er in Jugendherbergen übernachtet, spitze ich die Ohren, bohre nach. Er berichtet, dass er mit den Jugendherbergen nur gute Erfahrungen gemacht hat. Meistens hatte er ein Zimmer für sich ganz alleine und für Übernachtung, Frühstück und Abendbrot zahlt er nie mehr als 30€. Das hört sich doch gut an! In Gedanken setzte ich die Jugendherbergen auf meine Liste der Übernachtungsmöglichkeiten.

Schon im Fahren fragt er mich, ob ich hier oben schon einmal gewesen sei.
„Ja, zum Sternschnuppen zählen.“, erwidere ich. Aber das hat er nicht mehr gehört.
Die Geschichte liegt zwei Jahre zurück. Zu der Zeit war ich mit jemandem befreundet, die immer lustige und verrückte Ideen im Kopf hatte, mich ständig mit etwas Neuem überraschte. So auch an jenem Abend. Sie klingelte und verkündete, ich solle sofort feste Schuhe anziehen und eine Jacke mitnehmen. Ich griff zur Jacke und schon ging es los. Sie saß am Steuer, fuhr die Autobahn von Hamburg Richtung Süden. Sie lachte immerzu fröhlich, so wie es Kinder machen. Ich bemerkte kaum, dass wird die Autobahn verließen, denn ich hatte nur Augen für sie. Wir parkten auf einem großen Platz am Waldesrand. Sie griff hinter sich und holte einen Picknickkorb vom Rücksitz.
„Komm“, sagte sie fröhlich.
Ich folgte ihr durch einen verwunschenen Wald auf einem Weg, der im Dämmerlicht kaum auszumachen war. Sie lief voran und lachte immerzu. Ich fühlte mich unbehaglich, denn ich wusste weder, wo wir waren noch wo wir hin wollten.
„Vertraue mir“, erwiderte sie, als ich es ihr sagte. Das fiel mir nicht leicht, weil ich mich fragte, was aus mir würde, wenn sie auf einmal weg wäre. Aber sie würde ja nicht verschwinden.
Der Wald wich beiseite, offene Heidefläche tat sich vor uns auf. Die Füße stapften über sandigen Boden. Es ging erst seicht, dann steiler bergan, bis wir oben auf einem Berg standen. Von dort hatte man einen wundervollen Blick in alle Richtungen. Mittlerweile war es schwarze Nacht geworden, nur im Norden konnte man die Lichter Hamburgs ausmachen. Ich hatte immer noch keine Ahnung, wo wir waren.
Sie gab mir einen Kuss, breitete eine Decke aus, die sie aus dem mitgebrachten Korb zog, drückte mir zwei Sektgläser in die Hand, zog eine Sektflasche aus dem Korb, es machte kurz "Plopp". Ihre eine Hand lud mich ein, sich zu ihr zu setzen, während die andere den Sekt in die Gläser füllte. Während wir tranken, wies sie zum Himmel. Mein Blick folgte ihrer Bewegung und sah den unglaublich klaren Sternenhimmel, den ich so lange nicht mehr betrachtet hatte. Millionen und Abermillionen Sterne glitzerten am schwarzen Firmament. Sterne, die nur für uns da waren.
„Es ist die Nacht der Perseiden und wir zählen heute Sternschnuppen. Bei jeder Sternschnuppe kannst du dir etwas wünschen.“, sagte sie und küsste mich.
„Was sind die Perseiden?“, wollte ich wissen.
„Ein Haufen von Meteoriten, die jedes Jahr zur selben Zeit dicht an der Erde vorbei fliegen und uns ihre Sternschnuppen schenken. Wir müssen sie nur sehen und uns dann etwas wünschen.“
So zählten wir. Ich entdeckte 42 Sternschnuppen, sie 76. Sie war eindeutig die bessere Sternschnuppenzählerin. Bei jeder Sternschnuppe rief sie aus: „Da“ und ich bekam einen Kuss. Viele Wünsche kamen so zusammen, manche davon haben sich erfüllt, andere noch nicht und manche werden wohl nie in Erfüllung gehen.
Die Zeit hätte in diesem Moment stehen bleiben können. Doch sie lief weiter und irgendwann wurde uns kalt.
Auf dem Rückweg ging der Mond auf. Er löste sich glutrot aus der Heide und schickte sich an, ein riesiger roter Ball am dunklen Himmel zu werden. Die bis eben noch graue Heide strahlte plötzlich dunkelrot, fast so wie tagsüber. Sie stand gerade in voller Blüte, denn es war August.
In dieser Nacht habe ich sie sehr geliebt. Für ihre unglaubliche Idee und auch dafür, dass sie zum richtigen Zeitpunkt für mich da war.
Es ist Zeit zum Gehen, denn von der Südseite kommen Touristen lärmend den Berg herauf. Ich bin dankbar, dass ich meinen einsamen Moment auf dem Berg hatte.
Am Fuße des Wilseder Berges weist die Wegmarke des E1 nach links, der Fernwanderweg macht einen gewaltigen Umweg über Bispingen. Mir ist das zu weit, so verlasse ich hier den E1 für eine Weile. Ich glaube, ich werde erst im nächsten Jahr wieder auf ihn treffen.
Die Sonne bricht durch die grauen Wolken. Und schon glüht die Heide.

Bolterberg und Stattberg sind Erhebungen, die fast so hoch und schön sind wie der Wilseder Berg. Aber sie sind nicht so bekannt, hier ist kein Mensch weit und breit.
Auf einer Wiese werden zwei Hütehunden ausgebildet. Übermütig ziehen sie an ihren Leinen, laufen freudig bellend um den Schäfer herum. Die Schafe finden das nicht lustig, ängstlich scharen sie sich aneinander und machen den Hunden das Hüten leicht.
Der Magen knurrt. Ich bin mit fast leerem Magen losgegangen und außer zwei Powerriegel habe ich nichts dabei. Ein Gasthof käme jetzt recht und ich erinnere mich, dass in Niederhaverbeck einer sein soll. Tatsächlich komme ich jetzt durch das Dorf und den Gasthof gibt es auch. Auf der Terrasse lasse ich mich in der Sonne nieder, strecke die Beine lang aus und lasse mir die Karte reichen. Eine Stunde später bin ich wieder unterwegs.

Hundert Meter vor mir kreuzt eine Schafherde den sandigen Weg. Bald sind sie hinter dem nächsten Heidehügel wieder verschwunden. Ich bin wieder alleine auf dem Weg.
Die Weite und Stille der Heide ist beeindruckend. Ist es windstill, hört man - nichts. Geht ein Lüftchen, dann hört man das Singen der Bäume.
Eine Informationstafel berichtet, dass in der Heide früher alle 20 bis 30 Jahre Eichen auf den Stock gesetzt wurden. So wurde Feuerholz für die kalten Wintertage gewonnen. Nachdem Kohle als Heizmittel das Eichenholz verdrängte, wurden die Bäume nicht mehr gefällt. Die Triebe haben sich zu stattlichen Eichenbüschen entwickeln können und bildeten untypische Eichenbuschwälder aus, die einmalig auf unserem Planeten sein sollen.
Ich bin nun vier Stunden unterwegs, es ist Zeit für eine zweite Pause. Ich setze mich auf eine der Bänke, die zahlreich am Wegesrand stehen, streife die Wanderschuhe von den Füßen und strecke mich lang aus. Ganz still ist es, solange ich die Augen offen habe. Als ich sie schließe, höre ich nach kurzer Weile, dass die Heide gar nicht still ist, sondern brummt.
„Woher mag das kommen?“, frage ich mich neugierig und öffne wieder die Augen. Ich sehe eine Biene auf einer nahen Heideblüten. Sie ist es, die summt. Nach und nach sehe ich weitere, die von Blüte zu Blüte fliegen und Nektar aus den Heideblüten saugen. Alle zusammen bilden das Brummen. Doch damit nicht genug. Zwei Zitronenfalter flattern munter herum, lassen sich schließlich auf meinem Rucksack nieder. Nach und nach sehe ich viel mehr Falter. So viel Leben in der Heide, dass ich gar nicht wahrgenommen habe. Offenbar muss ich mich auf das Betrachten konzentrieren, um all das wahrzunehmen. Es ist, als sei es unsichtbar bis zu dem Moment, an dem man bereit bin, es zu sehen. Lange sitze ich auf der Bank und spüre einen inneren Frieden in mir aufsteigen. „So also fühlt sich die Muße an“, sinniere ich. Ich denke es nicht nur, ich fühle es. Es dauert Ewigkeiten, bis ich weiter gehen mag.

An einer Weggabelung will Else Komoot, dass ich geradeaus gehe, doch da ist kein Weg. Als ich ganz genau hinschaue, entdecke ich hinter dichten Kiefern einen versteckten Pfad, der kniehoch mit Gras bewachsen ist. Das hätte ich nie als Weg angesehen. Aber ich folge ihm, wie Else Komoot es mir vorschlägt.

Erst geht es gut, später wird es beschwerlicher. Wildschweine haben den weichen Heidesand umgepflügt. Dann verliert das Smartphone auch noch die Internet-Verbindung, in Folge verschwindet die Komoot-Karte vom Display. Nur eine blaue Linie, die den zu gehenden Weg markiert, bleibt glücklicherweise sichtbar, dazu ein Punkt, der blinkt und damit anzeigt, wo ich mich gerade aufhalte. Der Weg vor mir geht weiter geradeaus, also gehe ich einfach weiter. Der blinkende Punkt folgt der Linie auf dem Display, also bleibe ich auf meiner geplanten Route. Alles ist gut.
Den Gedanken, was wäre, wenn jetzt das Smartphone vollständig den Dienst quittieren würde, schiebe ich lieber beiseite. Vielleicht wäre eine Karte, so richtig aus Papier, doch besser, als sich auf die Technik zu verlassen.
Ein paar Kilometer weiter schleicht sich ein dumpfes Geräusch in die Stille, wird beim Näher kommen lauter und konkreter, zerfällt schließlich in einen festen Rhythmus, der aus immer wiederkehrendem Rattern, Klacken und lautem Gekreische besteht. Dann klärt es sich auf: links von mir liegt der großen Freizeitpark Heidepark Soltau. Das Geräusch entstammt einem Fahrgeschäft.

Zum Bahnhof Wolterdingen ist es nicht mehr weit. Dort warte ich auf den Heidesprinter ErixX, der mich, aus Richtung Hannover kommend, zurück nach Hamburg bringt.