Morbides Gewand
Nach nur zwanzig Minuten Bahnfahrt stehe ich in Buchholz am Bahnhof, von dem es über eine graue Eisenbahnbrücke geht. Bald bin ich zurück in der Heide. Es dauert nicht lange, bis ich die erste Markierung des E1 sehe. Auch der Heidschnuckenweg ist wieder da. Heute will ich dem Fernwanderweg quer durch die Heide bis nach Undeloh folgen. Else Komoot soll dieses Mal Pause haben, denn ich möchte mich auf die Wegmarken des E1 verlassen und das Smartphone nur die Strecke loggen lassen. So möchte ich prüfen, ob man den Fernwanderweg auch nur anhand seiner Wegmarken folgen kann.
Die Heide steht ungewöhnlich früh in voller Blüte. Es mag am zeitigen Frühling und dem schönen Sommer liegen, das in diesem Jahr alles ein paar Wochen nach vorne versetzt zu sein scheint. Vielleicht ist Weihnachten in diesem Jahr bereits Ende November? Man kann es nicht wissen.
Leider meint es die Sonne heute nicht gut. Im Grau des Himmels brennt die Heide nicht rot, wie erhofft, sondern schimmert grau. Für den Tag ist kein gutes Wetter vorhergesagt, es soll bewölkt bleiben, vielleicht etwas regnen. Bei einer solchen Prognose empfiehlt es sich, für jede Eventualität etwas im Rucksack zu haben. Das macht ihn schwer, er scheuert schon auf den Schultern. Das mag ein Vorgeschmack sein, was mich im nächsten Jahr erwartet, wenn ich mit vermutlich schwererem Übernachtungsgepäck wandern werde.
Die Planung der heutigen Etappe war mühsam. Lange dachte ich, dass ich dem E1 durch die Heide nicht folgen könnte, denn es gibt keinen Bahnhof dort. Ich wusste, dass der Heidesprinter EriX ab Buchholz fährt, doch die Strecke führt westlich an der Heide vorbei– und eben nicht hindurch. Und so schaffte ich es lange nicht, diese Etappe zu planen. Leicht verzweifelnd begann ich mir einzureden, dass ich die Heide vielleicht links liegen lassen müsste. Es wäre schade gewesen.
Kurz bevor es los gehen sollte, habe ich den Heide-Shuttle entdeckt. Es ist ein Beförderungssystem, das auf drei Buslinien im Zweistundenrythmus alle Heideorte bedient. Damit wurde die Planung auf einmal kinderleicht, denn für den Rückweg konnte ich nun den Shuttlebus ab Undeloh einplanen. Sogar Fahrräder sind willkommen. Und besonders toll finde ich, dass der Service kostenfrei ist. Das ist doch eine sinnvolle Maßnahme, um die Heide autofrei zu bekommen.

Auf schmalen und verschlungenen Waldpfaden führt der E1 durch lichten Heidewald, der aus großen Birken, dicken Eichen und schlanken Kiefern besteht. Obwohl es idyllisch ist, bin ich doch ein wenig enttäuscht, denn eigentlich möchte ich die weiten Heideflächen sehen. Ich werde mich gedulden müssen, denn nur 65% der Flächen besteht aus Heide. Der Rest ist von Bäumen bewachsen. Wald ist die ursprüngliche Form der Heidelandschaft, die heutige Heide ist erst durch Menschenhand entstanden. Rodungen, intensiver Ackerbau und Viehzucht ließen entstehen, was wir heute unter Heide verstehen.

Schließlich endet der Wald, es bietet sich ein prächtiger Blick auf den Brunsberg. Die Anhöhe ist vollständig mit Heide bewachsen. Heide satt sozusagen, in voller Blüte. Ich bin genau zur rechten Zeit gekommen. Langsam gehe ich den sanft ansteigenden Weg hinauf zum Brunsberg. Oben angekommen, will ich Pause machen, doch es bläst ein zugiger Wind hier oben, den ich im Wald nicht bemerkt habe. Auf eine Bank setzte ich mich trotzdem und schaue mich um. Von hier kann man unglaublich weit in alle Richtungen schauen, bis zum Horizont nur Heide und Wald. Hier oben bin ich ganz für mich und das genieße ich sehr.

Schade nur, dass über der Heide ein so dunkler Himmel hängt. Das Grau der Wolken schwappt in die Heide und nimmt ihr das rote Brennen.
Der Wind lässt mich frösteln, deshalb verlasse ich schon bald den Berg auf der gegenüber liegenden Seite. Bei meinem Abstieg begegne ich einer lustigen Gemeinschaft, die sich laut lachend unterhält. Ein paar Frauen stehen in zwei Reihen hintereinander, gackeln und kommen nicht zur Ruhe. Ein Mann steht auf dem Weg, hält in gebückter Haltung einen Fotoapparat in der Hand und müht sich ab, den munteren Haufen so zu postieren, dass alle in den Sucher passen. Es gelingt ihm offenbar nicht. Ich beobachte amüsiert, was geschieht. Das geht eine ganze Weile so, ich habe schon Mühe, nicht zu lachen. Endlich frage ich den Mann, der vermutlich der Wanderführer ist, ob er nicht mit auf das Bild möchte. Er ist sichtlich erleichtert, die schwierige Aufgabe elegant lösen zu können, drückt mir blitzschnell die kleine Kamera in die Hand und eilt zu den Damen. Jetzt reißen sie sich plötzlich zusammen, stellen sich vorteilhaft in Pose. Ich bekomme alle in den Sucher und drücke ab. Ich soll gleich mehrere Bilder schießen. „Nur zur Sicherheit“, meinen die Damen. Mit dem Ergebnis sind sie zufrieden. Wir verabschieden uns und ich kann weiter.
An der nächsten Biegung kommen mir zwei Frauen entgegen.
„Guten Tag, die Heide blüht dieses Jahr ja ziemlich spät“, meint die eine von ihnen.
„Nein, sie blüht viel früher als sonst“, erwidere ich.
„Ach so“, sagt die andere, „wir können das nicht so genau wissen, denn wir kommen aus dem Rheinland“.
Immer weiter folge ich den Spuren des Fernwanderweges, die Wegmarken weisen mir vorzüglich den Weg. Wald, Heidewiesen und bewirtschaftete Flächen, auf denen überwiegend Mais wächst, wechseln sich ab. Manchmal muss ich auf ausgetretenen Pferdewegen gehen, im weichen Sand ist das Wandern dann beschwerlich.

Kurz hinter Inzmühren treffe ich auf eine Schutzhütte. Sie kommt mir gerade recht, denn aus heiterem Himmel beginnt es zu regnen. Kurzerhand verkrieche ich mich in die Hütte, packe den Proviant aus, esse mit Genuss und mache anschließend die müden Beine lang. Wie gut das tut! Und schon bin ich weg. Als ich die Augen wieder aufmache, ist die Regenwolke abgezogen. Ich kann weiterwandern. Die Hütte war zur rechten Zeit am rechten Ort.

Weiter geht es durch den Wald, der mich bis nach Undeloh begleiten wird. Der Weg ist breit, die Wegmarken des E1 gut sichtbar. Else Komoot brauche ich heute tatsächlich nicht. Dann wird der Weg schmaler und der Wald dichter, auf der Wetterseite sind die Stämme voller Moos. Hier ist es feucht und totes Holz liegt in Mengen herum. Es riecht moderig und streng. Auf dem Weg krabbeln Mistkäfer herum, kleine, schwarze Geschöpfe, die sogar glänzen, wenn die Sonne nicht scheint. Sie verschwinden in kleinen Löchern, um an anderer Stelle wieder hervor zu kriechen. Pferdeäpfel scheinen sie zu lieben, denn auf den Hinterlassenschaften der Pferde sitzen sie zu Dutzenden. Überall kriechen sie herum, ich muss aufpassen, nicht auf die schwarzen Krabbler zu treten.
In meinem Geist bildet sich das Wort „morbide“. Am Liebsten hätte ich die Gegend hinter mir. Doch noch eine ganze Weile geht es weiter durch den feuchten, klammen Wald, bis der Pfad endlich in Undeloh endet. Ich komme an einem großen Parkplatz vorbei, der mir irgendwie bekannt vorkommt. „Hier war ich schon einmal“, denke ich. Aber es fällt mir fällt nicht ein, wann das war.

Die Straße durch Undeloh ist viel befahren, PKW und Busse drängeln sich dicht an dicht, es ist ein großes Geschiebe und es sieht so aus, als hätten die Touristen den Ort fest in ihren Händen.
Es dauert noch eine dreiviertel Stunde, bis das Heide-Shuttle kommt. So ist genug Zeit, um mir in der Teestube eine leckere Buchweizentorte und einen großen Milchkaffee zu gönnen. Ich setze mich in den Garten, die Bedienung hat Tische und Stühle bereits trocken gewischt.
Kurz vor der Abfahrt füllt sich die Haltestelle mit Wanderern, Touristen und Radfahrern, so dass ich mich frage, ob wir alle in den Bus passen werden. Doch ich übe mich in Gelassenheit und warte ab. Der Bus kommt, und alle passen locker hinein, der Busfahrer hilft den Fahrradfahrern mit den Rädern und mit einem kessen Spruch startet er die Tour durch die Heide. Während der Fahrt bekomme ich noch eine Menge von der Heide zu sehen, bis der Bus in Buchholz auf dem Bahnhofsplatz stoppt und ich noch ein paar hundert Meter zum Bahnsteig laufen muss. Dafür wartet heute der Zug und fährt erst los, nachdem ich mit Ticket eingestiegen bin.