Ein langer Weg durch das Moor
Pfingstmontag. Zwei Wochen sind seit der letzten Wanderung vergangen. Heute soll es warm werden, deshalb will ich früh los. Der Wecker klingelt um sieben Uhr. Das Müsli ist eilig gelöffelt, die Kaffeetasse bleibt halbvoll zurück. Nur raus, endlich raus, wieder unterwegs sein!
Mit dem Auto fahre ich in einer Stunde nach Boostedt und setze die Wanderung genau dort fort, wo die letzte Etappe endete, wende mich gleich nach Norden und lasse den Ort rasch hinter mir. In der Feldmark höre ich den Kuckuck. Das Getreide steht höher als vor zwei Wochen. Es ist wunderbar, den stetigen Wandel der Natur hautnah mitzuerleben.
Jenseits der breiten, lärmenden Straße, die gerade den Feldweg kreuzt, lockt der stille Wald, doch dorthin darf ich nicht, denn er liegt im militärischen Sperrgebiet. Ich muss auf der Landstraße drum herum laufen. Autos fahren vorbei, machen tarak - tarak - tarak, während sie über Querrillen brettern. Es nervt. Tausend Meter weiter kann ich endlich seitlich in den Wald abtauchen. Auf einem Waldweg geht es nach Gadeland, dort vorbei an herausgeputzten Häusern mit gepflegten Vorgärten.

Endlose Weite. Hier fährt kein Auto und kein Traktor. Kein Vogel zwitschert, keine Kuh muht. Totale Stille und mittendrin ich - der einzige, der hier Geräusche macht. Meine Wanderschuhe knarzen bei jedem Schritt. Das war mit bisher noch nicht aufgefallen. Das Gehen geht wie von selbst, die Augen heften sich auf das Nichts des Asphalts vor mir. Der Blick hat sich längst nach innen gewendet, die Gedanken aufgehört zu kreisen. Das alles ist angenehm.

Mittag. Die Sonne brennt. Die Beine sind schwer, ein stilles Plätzchen der Ruhe muss her! Vielleicht in Tasdorf? Nein, nichts zum Ruhen dort, weiter. In Grossharrie gibt es ein Wartehäuschen aus Plastik, wenigstens Schatten. Ich hatte mir einen schöneren Platz gewünscht, doch ich nehme ihn an, verdrücke im Sitzen einen Energieriegel, schaue mit Hilfe des Smartphones, wie ich ins Dosenmoor komme. Zoome die Komoot-Karte groß und wieder klein, wieder groß und nochmals klein. Peng - der Bildschirm wird schwarz. Komoot ist abgestürzt.
"Ach, Else! Nicht schon wieder!", rufe ich wütend, weil ich ahne, dass Else jetzt wieder zicken wird. Und dabei habe ich dieses Mal nicht die Route verlassen. Verstehe einer die Frauen! Auch wenn Else nur eine Computerfrau ist.
Nun gut, ich habe die Route ungefähr im Kopf, lange genug habe ich an der heutigen Tour ja herum gefeilt.
„Das müssen die von Komoot unbedingt anpassen“, grummele ich vor mich hin, während ich mich in Richtung Dosenmoor bewege.
Doch ohne die Hilfe von Else läuft's nicht rund. Keine zweihundert Meter weiter bin ich schon vom Weg abgekommen. Zum Moor hätte ich eben abbiegen müssen. Zurück will ich aber nicht, also versuche ich es stattdessen einfach querfeldein. Ein Acker, auf dem Mais wächst, ist schließlich kein Hindernis, oder? Erst geht alles gut, dann steht ein hoher Knick im Weg. "Da muss ich durch!", sage ich zu mir selbst und das laut, während ich mich durch die Büsche dränge. Scharfe Äste ritzen die Haut blutig, während Brennnessel an die Beinen brennen. Aua!
Auf der anderen Seite: noch ein Maisfeld. Ich hüpfe über die Furchen. Anstrengend! Die Erkenntnis reift langsam, aber stetig, dass es einfacher gewesen wäre, zurück zu gehen und den richtigen Weg zu nehmen. Ich versuche mir einzureden, dass das hier eine Portion Extra-Abenteuer sei.

Irgendwann stehe ich am Rand des Moors, zu erkennen an einem Hinweistafel, das informiert, dass vor wenigen hundert Jahren noch zehn Prozent der Fläche Schleswig Holsteins von Mooren bedeckt war, diese aber heute fast vollständig verschwunden sind, denn die Moore wurden abgetragen, der gewonnene Torf in Ermangelung anderer Brennstoffe verheizt.
Dann geht es hinein in das weite Moor. Ganz wohl ist mir nicht dabei , es ist etwas unheimlich und auf einmal fühle ich mich alleine gelassen. Da passt es gut, dass von der anderen Seite des endlosen Moorwegs ein Wanderer entgegen kommt. Weit entfernt und noch ganz klein wird er beim Näherkommen langsam größer. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis wir uns begegnen.
„Moin“. „Moin“. Mehr sagt man im Norden manchmal nicht.
Die Bank in der Mitte des Moors kommt gerade recht, um eine Pause zu machen. Rucksack vom Rücken, Wanderschuhe von den Füßen, Wasserflasche an den Hals. Ah, hatte ich einen Durst! Heiß im Moor! Energieriegel fast flüssig, Finger ganz klebrig. Satt, aber nun müde. Die Augen fallen mir zu. Sonnenstrahlen kitzeln mich wach.
"Wie herrlich das Leben doch ist", denke ich.
Der Weg durch das Moor ist noch lang, mein Körper zerfließt allmählich in der Hitze. Dann irgendwann bin ich durch, habe Bahngleise und Uferstraße überquert, stehe am Einfelder See. Der Magen meldet: Hunger! Offenbar haben die Energieriegel nicht gereicht, der Körper benötigt wegen der Wärme offenbar mehr Energie als gewohnt. Für einen Moment lockt deshalb das noble Restaurant Schanze am See, doch dann erscheint es mir zu gediegen für meinen rustikalen Wanderdress. Auch zieht es mich mehr zum herrlichen Sandstrand.
Ich würde jetzt gerne ein Bad nehmen, doch der Griff in den Rucksack bringt nur die Erkenntnis, dass die Badehose nicht ist, wo sie sein sollte. Zu blöd! Ohne Hose kann ich hier nicht baden, ohne zum öffentliches Ärgernis zu werden.
Der Schatten der Bäume auf den Rasen ist ein Stück weiter gezogen. Ich muss wohl eingenickt sein, fühle mich wieder frisch. Ich packe meine Sachen zusammen und folge dem Uferweg.
Hinter der nächsten Biegung führt ein Trampelpfad zum Ufer, wo ich ein stilles Plätzchen finde. Hier sieht mich keiner. Also runter mit den Klamotten und ohne Badehose rein ins kühle Nass. Ah, wie erfrischend! Nach einer großen Runde durch den See kehre ich ans Ufer zurück, stehe nackt und tropfnass, auch ein wenig fröstelnd am Ufer, greife in den Rucksack - kein Handtuch. Ach Mann, habe ich heute denn alles vergessen? Egal! Schlüpfe ich eben nass in die Klamotten, die warme Sonne wird mich schnell trocknen, hoffe ich. Und so ist es auch.
An seiner Nordseite verlasse ich den See. Bald darauf bin ich am Bordesholmer See, einem schattigen Pfad durch dichten Wald folgend. Eine Hinweistafel informiert, dass ich gerade in einem Flora-Fauna-Habitat–Gebiet unterwegs bin, das unter dem Schutz der Europäischen Kommission steht, um den naturnahen Laubwald zu erhalten. Es scheint zu gelingen.
Nach bald dreißig Kilometern erreiche ich die Bordesholmer Stadtgrenze, die letzten zwei Kilometer sind schier endlos, doch irgendwann kommt der Bahnhof doch in Sicht. Meine Beine können nicht mehr, es reicht mir. Zur Belohnung gönne ich mir zwei Kugeln Eis in der Waffel, die in der Sonne schneller schmelzen, als ich schlecken kann.
Die Rückfahrt ist lang und das ich das Auto in Boostedt zurück gelassen habe, war ein Fehler. Um hin zu gelangen, muss ich zwei Mal umsteigen.
Am Abend bin ich in St. Georg zum Essen eingeladen. Jetzt ist mein Hunger riesengroß und der Durst ist es auch. Voller Begeisterung berichte ich meinem Gegenüber über meine neuesten Erlebnisse. Erzähle von Elses Absturz, von meinem Gefühl im einsamen Dosenmoor, dem Nacktbaden im Einfelder See und dem dichten Urwald am Bordesholmer See.
Ach, war das ein schöner Wandertag!